Gottesdienst am 4. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 2005

 

Lieder:

 

Die güldne Sonne...449, 1-4+10

(im Wohnstift Augustinum: O Gott, du frommer Gott...495)

Befiehl du deine Wege... 361, 1 - 6/ 7 –10/ 11+12

 

Psalm 42 (Nr. 722)

(im Bettina von Arnim Haus: Psalm 32)

 

Lesung: Römer 14, 7 - 13

 

 

Predigt über 1. Mose 50, 15 – 21

 

Liebe Gemeinde!

 

Der für heute vorgeschlagene Predigttext steht am Ende der Erzählung von Josef und seinen Brüdern. Bevor wir ihn hören, gibt’s einiges zu erzählen.

 

Jakob ist uralt gestorben (1. Mose 47, 28). Man hat seinen Leib der Sitte gemäß einbalsamiert und ihn  dann in  langem Zug auf knarrenden Ochsenkarren  nach Kanaan geleitet (1. Mose 50, 26). Dort  wird er in einer Grabkammer auf einem Feld in Sichem, das Jakob für 1oo Goldstücke gekauft hatte, beigesetzt (Josua 24, 32).

 

Verschlossen das Haus, beseitigt der Vater“, so beschreibt Thomas Mann in seinem Roman „Josef und seine Brüder“ die Szene, „sie blicken starr auf den Ziegel der letzten Lücke. Was ist ihnen denn? Sie blicken so fahl, die Brüder, und kauen die Lippen. Verstohlen schielen sie nach Josef und schlagen die Augen nieder. Ganz offenkundig: Sie fürchten sich. Verlassen fühlen sie sich: Beklemmend verlassen. Der Vater ist fort...Bis jetzt noch war er zugegen gewesen, wenn auch in Wickelgestalt - nun ist er vermauert, und plötzlich entsinkt ihnen das Herz. Und plötzlich ist ihnen, als sei er ihr Schirm und Schutz gewesen, nur er, und  habe gestanden, wo nun nichts und niemand mehr steht, zwischen ihnen und der Vergeltung“.

 

Das gibt es ja: Solange die Eltern leben, ist noch Ruhe, da schwelt es nur, was an Unbereinigtem zwischen  den Geschwistern da ist. Aber dann, wenn die Eltern tot sind, dann bricht’s heraus, all das, was unausgesprochen, unaufgearbeitet  war. Da kommt’s dann zum Bruch, zu offenem Haß und  Streit, zu bleibenden Zerwürfnissen.

 

Was gab es zwischen Josef und seinen Brüdern an Unbereinigtem, Ungeklärten, an  Schuld und an Bösem?

 

Eine lange Geschichte ist das ja, Sie kennen sie alle wohl schon aus Kindertagen. „Ein Dickicht unerbaulicher Menschlichkeiten“, so hat der Theologe Gerhard von Rad es benannt.  Josef, erster Sohn der geliebten Rahel, wird als Kind schon bevorzugt, er redet überheblich, prahlerisch, das verärgert die Brüder, sie werden neidisch, eifersüchtig, beginnen Josef zu hassen, wollen ihn weghaben.

 

Ihn umzubringen – davor scheuen sie sich nun doch. Stattdessen werfen sie ihn in eine Grube. Soll er verdursten. 

2

 

Aber Josef wird bewahrt. Nach  drei Tagen entdecken ihn, vorbeiziehende Kaufleute.  Sie nehmen ihn mit und verkaufen ihn  als Sklaven in Ägypten.

 

In  der Familie zu Hause frißt das Böse weiter. Die Brüder versuchen die Untat zu vertuschen, lügen etwas daher von einem wilden Tier, das den Josef zerrissen habe...Sie gewinnen die von ihnen vermißte Liebe des Jakob nicht; im Gegenteil: Jakob versinkt in Trauer über den so geliebten Sohn. Und einander gerade in die Augen sehen können die Brüder auch nicht mehr.

 

In  Ägypten aber beginnt ein  geradezu märchenhafter Aufstieg des Josef:  Aufgrund

seiner Gaben - er weiß Träume zu deuten - und  aufgrund seines

Glaubensgehorsams gegen Gott. Er wird zum zweimächtigsten Mann nach dem Pharao, er heiratet mit 30. Zwei Söhne werden ihm geschenkt..

 

Zuhause dagegen herrscht bittere Hungersnot. Die Brüder ziehen  nach Ägypten, um dort Lebensmittel zu bekommen. Nur den Jüngsten, den Benjamin, ebenfalls von Rahel geboren, hält Jakob aus Angst um ihn zurück. Die Zehn dienern vor dem Mächtigen, dem Herrn über die Getreidesilos. Sie neigen sich tief vor ihm. Josef erkennt sie,  er gibt sich ihnen aber aus gutem Grund noch nicht zu erkennen.  Stattdessen faßt er sie hart an. Sie müssen den Jüngsten, den Benjamin, holen; sie finden Geld in ihren Getreidesäcken, was ihre Angst vermehrt,  schließlich sind sie

innerlich so weit, daß Juda – stellvertretend für alle – von der unseligen Vergangenheit, die doch so gegenwärtig ist, erzählt, auch von Josef erzählt er, bleibt aber immer noch bei der Lüge, er sei von einem Tier zerrissen worden.

 

Und nun  kann Josef nicht länger an sich halten, er weint laut, gibt sich zu erkennen

und sagt die tiefen Worte: Um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch hergesandt! Damit ihr jetzt Lebensmittel bekommt, damit Gottes Segen auf unserer Familie bleibt – darum hat Gott alles so gefügt. Josef erkennt die wunderbare, die auf so verschlungenen Wegen geschehende Führung Gottes!

 

Ja, und  dann läßt er den Vater holen, die Sippe erhält fruchtbare Ländereien, alles scheint gut. Eitel Friede – und ist doch noch kein Friede.

 

Der einfache Nomade Jakob, inzwischen einhundertdreißigjährig, gesegnet von Gott,    segnet den Pharao. Er segnet vor seinem Tod auch die beiden Söhne Josefs, den Ephraim und  den Manasse. Und er segnet die eigenen Söhne. Dann  stirbt er – und die Brüder denken: Jetzt kommt die Vergeltung.

 

In den ersten Versen des heutigen  Predigttextes heißt es:

 

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein, und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.

Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, daß sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters.

 

3

 

Solch eine gewundene Rede! Sie versuchen, sich hinter der Autorität des Vaters zu verschanzen. Und was sie sagen, ist immer noch unwahrhaftig, im biblischen Text steht nichts davon, daß der Vater so etwas gesagt hätte. Und sie versuchen auch Gott für sich einzuspannen. Wir sind doch wie du Diener des Gottes deines Vaters. Also – und hier kommt das entscheidende Wort vor: Vergib!

 

Hier kommt es zum zweiten Mal in der Bibel überhaupt vor (das erste Mal in der Kainsgeschichte). Diese unerhörte Möglichkeit im menschlichen Zusammenleben: Vergeben!   In  allen Religionen der Welt geht es immer um Sühne, Vergeltung., Buße und Strafe. Nur vom Glauben Israels konnte überhaupt so etwas ins Blickfeld menschlicher Möglichkeiten  geraten, daß man Schuld auch ver-geben kann. Daß man sie also wie einen Stein  vom Herzen des Andern  nehmen und wegwerfen, abgeben kann. So daß sie nicht mehr auf dem schuldigen Menschen lastet.

 

Eins ist dazu aber unabdingbar: Daß der Andere Schuld auch eingesteht. Das ist offenbar das Schwerste.

 

 

Der heutige Predigttext mündet in diese Verse:

 

Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten.

Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.

Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt?

Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten  ein  großes Volk.

So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er

tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

 

Ach, diese Brüder! Ach, wir Menschen. Jetzt kriechen sie vor ihm: „Wir sind deine Knechte“. So wie der verlorene Sohn sagt: „Mache mich zu einem deiner Tagelöhner“ (Lukas 15, 19).

 

Und Josef weint zum  zweiten Mal. Er weint nicht über seine verkorksten Brüder. Er weint, aufs innerste erschüttert über die gnädige Führung und unbegreifliche Treue Gottes. 

 

Leicht hatte Gott es dem Josef ja wahrlich nicht gemacht. Was mußte er alles durchleiden: In  der Zisterne, den Tod vor Augen...und im Gefängnis in Ägypten... und die Sehnsucht nach Zuhause und nach  dem Vater...Aber wieviel Segen hat er auch empfangen: Bewahrung und Erfolg, Familienglück und  hohes Ansehen. Und  immer ist er geradlinig, ein-fältig, in  Gottesfurcht geblieben. Und nun erkennt er rückblickend: All das war Gottes Weg mit ihm. Mitten während dieses Weges konnte er das noch nicht erkennen. Aber im Rückblick sieht er klar. So wie der Philosoph Sören Kierkegaard das einmal ausgedrückt hat: Das Leben muß vorwärts gelebt werden - kann aber nur rückwärts verstanden werden. „Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott hat es zum Guten gewendet. Wo ich ihm so unverdient viel verdanke – wie könnte ich euch vergelten, wie ihr’s eigentlich verdient hättet?!“

 

 

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Hier sehen wir, wie Vergebung allein möglich wird.

 

Erstens: Sie kann  nur geschehen, wo ein Mensch Schuld zugibt und unumwunden ausspricht.

 

Weiter: Sie ist wohl überhaupt nur möglich, wo einer zuerst den Blick auf Gott richtet: Auf Gottes Führung. Auf Gottes Treue. Auf Gottes Erbarmen. Auf den Gott,  der die Sünde straft und Vergeltung übt. Der es aber schließlich so gewollt und gefügt hat, daß sein Sohn Jesus das Urteil, das uns mit Recht gelten müßte, an unserer Stelle ertragen hat. Und wir  – wenn wir unsere Schuld erkennen und zugeben – empfangen seine Vergebung, bleiben Geliebte Gottes, auf ewig Begnadete. Nur wer etwas davon erkennt, von diesem Wunder, das tiefste Freude und Dankbarkeit in uns wecken kann, der wird das eigentlich Menschenunmögliche können: Von Herzen vergeben. Er wird die Schuld des Andern nehmen und sie Jesus geben,  sie

Ihm aufhalsen und anhängen, sie auf die Schultern des Gekreuzigten legen.

 

„Ich will für Euch und Eure Kinder sorgen“, sagt Josef noch. Zur Vergebung gehört die praktische Fürsorge. Zur Seelsorge gehört die Leibsorge. Nun ist wirklich Frieden.

 

Dieser Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre auch eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.