Frühgottesdienst am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres (10. November 2002)



Lieder:


All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad......440

Wir warten dein, o Gottes Sohn...152

Nun jauchzet all, ihr Frommen.. 9, 1+6

Reich des Herrn...602, 1+2


Psalm 90 (738)

Lesung: Lukas 18, 1-8


Predigt über 1. Thessalonicher 5, 1-11


Liebe Gemeinde!


Was wird geschehn, wenn wir dich sehn, wenn du uns heim wirst bringen, wenn wir dir ewig singen...“: Von welch einer Vorfreude und sehnsüchtiger Erwartung sind diese Liedworte erfüllt, die wir eben gesungen haben! Teilen wir diese Vorfreude, diese Erwartung? Wie hoffnungsvoll ist unser Glaube? Hören wir, was der Apostel Paulus von der Wiederkunft Jesu Christi im Lichtglanz der Herrlichkeit Gottes schreibt:


Von den Zeiten und Stunden aber, ihr Geliebten Gottes, ist es nicht nötig, euch zu schreiben;

denn ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.

Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen.

Ihr aber seid nicht in der Finsternis, daß der Tag wie ein Dieb über euch komme.

Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.

So laßt uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern laßt uns wachen und nüchtern sein.

Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken.

Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.

Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus,

der für uns gestorben ist, damit ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben.


Zwei Wirklichkeiten, zwei völlig unterschiedliche Lebensweisen stellt Paulus uns hier vor Augen, zwei Wege, die aber auf das gleiche Ziel zuführen: Auf den „Tag des Herrn“, das Erscheinen Jesu Christi in Herrlichkeit.

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Auf dem einen Weg sehen wir Menschen im Dunkel der Nacht. Sie schlafen (Paulus gebraucht hier übrigens das griechische Wort für den Todesschlaf), sie tappen in Finsternis umher - und dieses Wort „Finsternis“ bedeutet in der Bibel immer das Leben fern von Gott, ein gott-loses Leben. Die Menschen auf diesem Wege betrinken sich – offenbar, weil sie das Leben mit seinen Undurchschaubarkeiten nicht aushalten. Aber zugleich verharmlosen sie, beschwichtigen sich, machen sich gegenseitig etwas vor: Es ist doch „Friede und Sicherheit“ sagen sie, dh. es ist ja eigentlich alles gar nicht so schlimm, man muß halt positiv denken – und vor allem: man muß sich möglichst gut absichern, dann kann einem schon nichts passieren...


Ach! sagt Paulus. Welch eine schreckliche Selbsttäuschung! Es kommt ein Tag, ein Augenblick, unvorhergesehen und unvermutet – so wie beim Einbruch eines Diebes, so wie beim plötzlichen Eintreten von Wehen – da werden die Menschen, die so lebten, vom Verderben ereilt und sie können nicht entrinnen.


Dagegen der andere Weg: Leben im Anbruch des Tages, Leben im Sonnenaufgang. Die Menschen auf diesem Weg sind hellwach, ausgeschlafen, nüchtern. Sie sind dem Verderben nicht mehr schutzlos ausgeliefert, denn sie tragen Waffen bei sich: Nicht Angriffswaffen, sondern Waffen, die sie schützen vor finsteren Einflüssen. Diese Waffen sind: 1. der Glaube, der Glaube an Christus den Sieger, und darum 2. sind diese Menschen anderen Menschen in Liebe zugewandt und 3. sind sie beflügelt von einer starken Hoffnung, nämlich von der zugleich geduldigen wie ungeduldigen Erwartung: Bald wird Christus kommen und dann wird die ganze Schöpfung erlöst werden, alles wird dann heil.


Und ihr, sagt Paulus jetzt zu uns, ihr, die ihr nach Christi Namen genannt seid, ihr, die ihr euch Christen nennt: Ihr seid auf diesen Weg des beginnenden Tages gestellt, ihr geht schon auf diesem Weg...Dieser andere Weg in Dunkel, Finsternis und Selbstbetäubung – für euch ist er ein schon vergangener, überholter, nicht mehr gangbarer Weg. „Ihr seid nicht mehr in der Finsternis“, stellt er fest. Und noch einmal, betont und wie eine ganz und gar unumstößliche Tatsache: „Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis!“


Aber, Paulus, werden wir sofort einwenden, wie kannst du nur so reden? Ich jedenfalls fühle mich eher schwankend, mal eher auf diesem, aber auch immer wieder einmal auf dem anderen Weg. Sicher: Immer wieder aufs neue werden wir durch das Evangelium sehr froh, wird unser Leben hell durch Christus, wird uns sonnenklar: Er ist der Erlöser meines Lebens und der Welt, einen anderen kann es nicht geben – aber dann, dann brechen eben doch immer wieder finstere Einflüsse in unser Leben hinein.


Und das wollen wir klipp und klar sagen: Daß unsere Welt schon im Tagesanbruch, schon im zunehmenden Sonnenlicht lebt, das können wir weder an unserem Leben ablesen noch am Verhalten der Christenheit und auch nicht am Verlauf der Weltgeschichte. Man kann sich das an den gestrigen Gedenktagen klarmachen: Der 9. November 1989 – Tag der Maueröffnung, von manchen ersehnt und dann doch ganz unvermutet und überraschend - das war ein Tag der Freude...Aber zugleich gab und gibt es einen 9. November vor 64 Jahren, den 9. November 1938: Reichspogromnacht –:

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Die Synagogen angesteckt, die jüdischen Mitbürger aus ihren Häusern getrieben, ihr Eigentum beschlagnahmt, ihre Habe aus den Fenstern geworfen und sie selbst davongetrieben in finsterste Nacht.


Also: In der Weltgeschichte, wie auch in unserem persönlichen Leben, da gibt’s Beides: Licht und Schatten, Schlafen und Aufgewecktsein, sich betäuben und nüchtern sein.


Und doch: Paulus beharrt darauf. Wir leben im anbrechenden Tag. Wir sind auf einen Weg gestellt, an dessen Ziel Christus im schattenlosen Mittagslicht der Ewigkeit wiederkommen wird. Und er begründet das mit einem einzigen Satz, mit einem einzigen Geschehen: Jesus Christus ist für uns gestorben, damit wir, ob wir wachen oder schlafen, zugleich mit ihm leben. Dieses Ereignis, der Tod Jesu für uns, hat die Weltenwende gebracht. Seither ist die Welt ins Licht gestellt und geht auf den lichterfülltenTag Jesu Christi zu. Und darum nennt Paulus uns mit einem schönen Ausdruck „Kinder des Lichts“. So wie Kinder ohne ihr Zutun in eine Welt hineingeboren werden, die längst vor ihnen da ist, so sind wir ohne unser Zutun in das Licht, das Jesus bewirkt hat, hineingenommen. Und einmal, am Tag des Herrn, wird dieses Licht alles Dunkle und Finstere überwunden haben und vor aller Augen sichtbar werden.


Nicht wahr, das ist eine Hoffnung, von deren Erfüllung wir noch kaum etwas sehen, es ist eine Hoffnung gegen den Augenschein.


Aber etwas können nun doch auch wir selbst tun, nämlich: Im Glauben an ihn leben, im Vertrauen auf ihn und seine Macht, die uns hilft, alle andere Art von Macht kritisch anzusehen. Und dieser Glaube an die Macht Jesu kann sich nur in einem äußern: In der Liebe. Glaube ohne Liebe ist überhaupt nichts wert. Sondern der Glaube wendet sich jedem unserer Mitgeschöpfe in der Haltung zu: Er oder sie ist bei Gott angesehen, ist von ihm hoch angesehen. Und er steckt Menschen an mit der Hoffnung, die der ehemalige Bundespräsident Heinemann auf dem Essener Kirchentag 1950 in einen berühmten Satz zusammenfaßte: „Die Herren dieser Welt gehen – unser Herr aber kommt!“


Das ist das Ziel, das wir unbeirrt im Auge haben sollen: Die Wiederkunft Christi, das Kommen Jesu Christi in unvorstellbar herrlichem Lichtglanz.


In Mark Twains Roman „Tom Sawyer’s Abenteuer und Streiche“ erzählt Twain,wie Tom Sawyer mit seinem Freund Huckleberry Finn über einen See rudert. Und dann schreibt Mark Twain den Satz: Als sie das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen....


Das scheint mir typisch für unsere kirchliche Situation: Wir strengen uns ungeheuer an – wieviel Angebote gibt’s bei uns! Aber haben wir Christen, haben wir als Kirche unbeirrt das Ziel vor Augen: Die Wiederkunft Christi? Wenn ja - dann können wir geradezu sagen: Weil wir das Ziel vor Augen haben, können wir unsere Anstrengungen halbieren. Oder noch drastischer gesagt, mit einem ungeheuren Satz des Propheten Jesaja 30 Vers 15: Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Stille sein und von unbändiger Hoffnung auf Jesus Christus den kommenden

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Sieger erfüllt – dies vorleben: Dann sind wir als Kirche stark. Nicht durch Aktivitäten! Sondern durch dieses in unserer Welt Fremde: Durch Stillesein und starke lebendige Hoffnung!


Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unserm Herrn. Amen.