Tauf- und Abendmahlsgottesdienst am Sonntag Sexagesimae, 27. Februar 2000 (Pfarrer Martin Quaas)

 

Predigt über 2. Korinther 12, 1 – 10

 

Liebe Gemeinde!

 

Paulus ist in Ephesus. Dort hört er, daß die Pastoren der Gemeinde in Korinth die Botschaft vom Kreuz Christi mißachten, verwässern, wegschieben. Der heutige Predigttext ist ein Ausschnitt aus einer überaus leidenschaftlichen Auseinandersetzung des Paulus mit dieser Verfälschung des Evangeliums. Er schreibt:

 

Gerühmt werden muß! Wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn.

Ich kenne einen Menschen in Christus; vor 14 Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? ich weiß es auch nicht; Gott weiß es -, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel.

Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es -,

der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.

Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit.

Und wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich nicht töricht; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.

Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.

Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, daß er von mir weiche.

Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne.

Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Mißhandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark. 

 

Nicht wahr, das sind starke Worte eines schwachen Menschen. Eines Menschen, dessen Kraft Christus ist.

 

Es gibt sie ja, die „starken Typen“: die Durchsetzungsfähigen, Ichstarken, Kinn vorgereckt, Widerstände überwindend, das Ziel unbeirrbar im Auge, Führernaturen, Lokomotiven, Dampfwalzen, notfalls über Leichen gehend.  Und es gibt sie, die  „Schwachen“: die eher Ängstlichen, die immer "nach Ihnen" sagen, sich hinter Anderen verstecken, Hindernissen ausweichen, sich lieber aus allem heraushalten, dienern und kuschen...

 

Ich denke, wir möchten weder zu den einen noch zu den anderen gehören. Aber gibt es eine Alternative, sozusagen einen „dritten Weg“? Ja. Paulus zeigt ihn uns an

 

2

 

seinem eigenen Beispiel: Den Menschen, dessen Kraftquelle Jesus ist, den Menschen, für den das Wort „Gnade“ keine Formel ist, sondern Lebenswirklichkeit.

 

Obwohl ich manchmal denke: Gefragt ist heute in der Gesellschaft, zunehmend anscheinend auch in der Kirche, eher der Typ des „Starken“: Des leistungsstarken, dynamischen, durchsetzungsfähigen Menschen.

 

Von solcher Art waren offenbar die Pastoren der Gemeinde in Korinth. „Überapostel“ nennt Paulus sie sarkastisch wenige Verse vorher (2.Kor.11,3); in heutigem Jargon: „Superpastoren“.

 

Das waren offenbar Männer, die glanzvoll auftraten, die reden konnten, daß man hingerissen, mit feuchtschimmernden Augen an ihren Lippen hing. Berühmt waren sie und rühmten sich auch selbst.  Sie sagten: Christus am Kreuz, ein gekreuzigter Gott: Pfui, wie unansehnlich, häßlich, abstoßend! Wir lehren stattdessen Zugänge zu den Tiefen des Göttlichen, Weisheit, die hoch hinausführt über die Niederungen des Irdisch-Fleischlichen.

 

Und wir Menschen, „unheilbar religiös“ (Berdjajew), wie wir sind, springen ja auf so etwas an, man braucht nur in die Esoterikläden zu gucken.

 

Und Paulus kämpft. Kämpft für das Evangelium von dem ans Kreuz geschlagenen Gott und Heiland.

 

Wenn ich wollte, sagt er, könnte auch ich mich rühmen. Könnte von hohen Offenbarungen berichten, von Entrückungen in Wirklichkeiten jenseits von Raum und Zeit, von exstatischen Erlebnissen, wo Geist und Seele den Körper verlassen und Unaussprechliches hören und sehen...

 

Aber!

 

Und dann spricht er von dem Pfahl im Fleisch, dem Engel des Satans, der ihn mit Fäusten schlägt....Was meint er? Epilepsie? Tiefe Depressionen? Schwerste Schuldgefühle aufgrund seiner dunklen Vergangenheit als Christenverfolger?  Lassen wir‘s im Geheimnis.  Wichtig ist: Gott hat trotz seiner intensiven Gebete diese Behinderung, dieses stigma nicht von ihm genommen. Denn er wollte, in seiner merkwürdigen Fürsorge, daß dem Paulus gerade dadurch die Gnade umso herrlicher aufginge.

 

Und dann nennt Paulus ihn, den Satz, den Christus als Antwort auf seine Gebete zu ihm gesagt hat: „Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“.

 

Ich finde, liebe Gemeinde, das  ist eine der klarsten und schönsten Formulierungen des christlichen Glaubens überhaupt. Christi Kraft umso mächtiger in uns, je schwächer wir selbst sind, je weniger „aufgeblasen“ wir sind. Da sticht Gott ja – um Luthers berühmtes Bild zu gebrauchen – irgendwann ein Loch in die Blase – und

 

 

3

 

dann ist halt die Luft `raus. Beispiele kennen wir – vielleicht auch aus dem eigenen Leben.

 

Im Grunde geht’s um die Frage, die  der Professor Stählin vor 14 Tagen in seinem Vortrag hier so formulierte:  Ob wir „in Macht über...“ oder „aus einer Kraft heraus“ leben. 

 

Paulus sagt: Die Kraftquelle, die uns am dankbarsten werden läßt und höchstmögliche Freiheit bewirkt, das ist die Gnade Gottes.

 

Gnade, das heißt: Gottes Entgegenkommen, seine Zuneigung zu uns trotz allem, was gegen uns spricht. Die schönste Veranschaulichung dieses Wortes ist und bleibt, finde ich, Jesu Gleichnis von dem Vater, der seinem umkehrenden, heimkehrenden Kind entgegenläuft und es in überströmender Freude in die Arme nimmt. Nicht wahr, da können wir überwältigend erkennen, welch eine Sehnsucht Gott nach uns hat, und in welcher Verlorenheit und Verkommenheit wir das Leben vertun, wenn wir es fern von Gott leben.

 

Eben haben wir Hanna getauft – und sind darüber ja auch daran erinnert worden, was unsere eigene Taufe bedeutet, nämlich: In lebendiger Verbundenheit mit Jesus leben, aus der Kraft Christi heraus leben.

 

Und das hoffentlich in einer Gemeinde und Kirche, deren Kraftquelle allein die Gnade ist.

 

Ich las bei dem Schweizer Theologen Walter Lüthi: „Es waren die besten

Zeiten der christlichen Kirche, wenn ihr die Gnade Christi genügte und wenn sie schwach war. Und umgekehrt waren es die bedenklichsten Zeiten, wenn ihr die Gnade Christi nicht genügte und sie ein Kultur- oder Machtfaktor sein wollte...“.

 

Nicht wahr, im Grunde müssen wir doch zugeben: Was ist schon eine Sonntagspredigt in einer Stadt, in der auch Sonntagmorgens so viele kulturelle Glanzlichter angeboten werden, was ist schon ein Abendmahl in einer Welt, in der so opulente Buffets angeboten werden, und eine Taufe: Auch ein ganz schlichtes Geschehen. Aber: In diesen unscheinbaren Formen von Predigt, Taufe und Abendmahl empfangen wir etwas, was da Herrlichste für’s Leben überhaupt ist, die Zuwendung der Gnade Gottes.

 

Noch einmal Kurt Lüthi: „Immer wieder tritt an die Kirche die Versuchung heran, eine starke Kirche sein zu wollen mit Einfluß und Ansehen. Wie geschmeichelt sind wir Kirchenleute, wenn wir mitlaufen dürfen im Triumph der Selbstverherrlichung und auch etwas gelten! Nein - will die Kirche stark sein, so ist sie schwach. Wo ihr aber die Gnade genügt, darf sie erfahren, daß sie lebt. Während die Größen und Gewalten dieser Welt früher oder später wanken und stürzen, lebt sie immer weiter und darf ein Zeichen dafür sein, daß Gott es mit den Schwachen hält und auf der Seite der Angefochtenen steht und daß der Ohnmächtige am Kreuz der allmächtige Retter der Unterlegenen und Verlorenen ist. Denn Christi Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Darum: Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in ihm: Jesus Christus unserem Herrn. Amen

 

 




Weitere Predigten von Pfarrer Martin Quaas, Essen-Rellinghausen, finden Sie unter www.martin-quaas.de/predigten.