Liebe
Gemeinde!
Paulus ist in
Ephesus. Dort hört er, daß die Pastoren der Gemeinde in Korinth die Botschaft
vom Kreuz Christi mißachten, verwässern, wegschieben. Der heutige Predigttext
ist ein Ausschnitt aus einer überaus leidenschaftlichen Auseinandersetzung des
Paulus mit dieser Verfälschung des Evangeliums. Er schreibt:
Gerühmt werden muß! Wenn es auch nichts nützt, so will ich
doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn.
Ich kenne einen Menschen in Christus; vor 14 Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? ich weiß es auch nicht; Gott weiß es -, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel.
Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer
dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es -,
der wurde entrückt in das Paradies und hörte
unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.
Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber
will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit.
Und wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich nicht töricht;
denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht
jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.
Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht
überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der
mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.
Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, daß er von
mir weiche.
Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will
ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi
bei mir wohne.
Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Mißhandlungen,
in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach
bin, so bin ich stark.
Nicht wahr,
das sind starke Worte eines schwachen Menschen. Eines Menschen, dessen Kraft
Christus ist.
Es gibt sie
ja, die „starken Typen“: die Durchsetzungsfähigen, Ichstarken, Kinn vorgereckt,
Widerstände überwindend, das Ziel unbeirrbar im Auge, Führernaturen,
Lokomotiven, Dampfwalzen, notfalls über Leichen gehend. Und es gibt sie, die „Schwachen“: die eher Ängstlichen, die immer
"nach Ihnen" sagen, sich hinter Anderen verstecken, Hindernissen
ausweichen, sich lieber aus allem heraushalten, dienern und kuschen...
Ich denke, wir
möchten weder zu den einen noch zu den anderen gehören. Aber gibt es eine
Alternative, sozusagen einen „dritten Weg“? Ja. Paulus zeigt ihn uns an
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seinem eigenen
Beispiel: Den Menschen, dessen Kraftquelle Jesus ist, den Menschen, für den das
Wort „Gnade“ keine Formel ist, sondern Lebenswirklichkeit.
Obwohl ich
manchmal denke: Gefragt ist heute in der Gesellschaft, zunehmend anscheinend
auch in der Kirche, eher der Typ des „Starken“: Des leistungsstarken,
dynamischen, durchsetzungsfähigen Menschen.
Von solcher
Art waren offenbar die Pastoren der Gemeinde in Korinth. „Überapostel“ nennt
Paulus sie sarkastisch wenige Verse vorher (2.Kor.11,3); in heutigem Jargon:
„Superpastoren“.
Das waren
offenbar Männer, die glanzvoll auftraten, die reden konnten, daß man
hingerissen, mit feuchtschimmernden Augen an ihren Lippen hing. Berühmt waren
sie und rühmten sich auch selbst. Sie
sagten: Christus am Kreuz, ein gekreuzigter Gott: Pfui, wie unansehnlich,
häßlich, abstoßend! Wir lehren stattdessen Zugänge zu den Tiefen des
Göttlichen, Weisheit, die hoch hinausführt über die Niederungen des
Irdisch-Fleischlichen.
Und wir
Menschen, „unheilbar religiös“ (Berdjajew), wie wir sind, springen ja auf so
etwas an, man braucht nur in die Esoterikläden zu gucken.
Und Paulus
kämpft. Kämpft für das Evangelium von dem ans Kreuz geschlagenen Gott und
Heiland.
Wenn ich
wollte, sagt er, könnte auch ich mich rühmen. Könnte von hohen Offenbarungen
berichten, von Entrückungen in Wirklichkeiten jenseits von Raum und Zeit, von
exstatischen Erlebnissen, wo Geist und Seele den Körper verlassen und
Unaussprechliches hören und sehen...
Aber!
Und dann
spricht er von dem Pfahl im Fleisch, dem Engel des Satans, der ihn mit Fäusten
schlägt....Was meint er? Epilepsie? Tiefe Depressionen? Schwerste Schuldgefühle
aufgrund seiner dunklen Vergangenheit als Christenverfolger? Lassen wir‘s im Geheimnis. Wichtig ist: Gott hat trotz seiner
intensiven Gebete diese Behinderung, dieses stigma nicht von ihm genommen. Denn
er wollte, in seiner merkwürdigen Fürsorge, daß dem Paulus gerade dadurch die
Gnade umso herrlicher aufginge.
Und dann nennt
Paulus ihn, den Satz, den Christus als Antwort auf seine Gebete zu ihm gesagt
hat: „Laß dir an meiner Gnade genügen,
denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“.
Ich finde,
liebe Gemeinde, das ist eine der
klarsten und schönsten Formulierungen des christlichen Glaubens überhaupt.
Christi Kraft umso mächtiger in uns, je schwächer wir selbst sind, je weniger
„aufgeblasen“ wir sind. Da sticht Gott ja – um Luthers berühmtes Bild zu
gebrauchen – irgendwann ein Loch in die Blase – und
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dann ist halt
die Luft `raus. Beispiele kennen wir – vielleicht auch aus dem eigenen Leben.
Im Grunde
geht’s um die Frage, die der Professor
Stählin vor 14 Tagen in seinem Vortrag hier so formulierte: Ob wir „in Macht über...“ oder „aus einer
Kraft heraus“ leben.
Paulus sagt:
Die Kraftquelle, die uns am dankbarsten werden läßt und höchstmögliche Freiheit
bewirkt, das ist die Gnade Gottes.
Gnade, das
heißt: Gottes Entgegenkommen, seine Zuneigung zu uns trotz allem, was gegen uns
spricht. Die schönste Veranschaulichung dieses Wortes ist und bleibt, finde
ich, Jesu Gleichnis von dem Vater, der seinem umkehrenden, heimkehrenden Kind
entgegenläuft und es in überströmender Freude in die Arme nimmt. Nicht wahr, da
können wir überwältigend erkennen, welch eine Sehnsucht Gott nach uns hat, und
in welcher Verlorenheit und Verkommenheit wir das Leben vertun, wenn wir es
fern von Gott leben.
Eben haben wir
Hanna getauft – und sind darüber ja auch daran erinnert worden, was unsere
eigene Taufe bedeutet, nämlich: In lebendiger Verbundenheit mit Jesus leben,
aus der Kraft Christi heraus leben.
Und das
hoffentlich in einer Gemeinde und Kirche, deren Kraftquelle allein die Gnade
ist.
Ich las bei
dem Schweizer Theologen Walter Lüthi: „Es waren die besten
Zeiten der
christlichen Kirche, wenn ihr die Gnade Christi genügte und wenn sie schwach
war. Und umgekehrt waren es die bedenklichsten Zeiten, wenn ihr die Gnade
Christi nicht genügte und sie ein Kultur- oder Machtfaktor sein wollte...“.
Nicht wahr, im
Grunde müssen wir doch zugeben: Was ist schon eine Sonntagspredigt in einer
Stadt, in der auch Sonntagmorgens so viele kulturelle Glanzlichter angeboten
werden, was ist schon ein Abendmahl in einer Welt, in der so opulente Buffets
angeboten werden, und eine Taufe: Auch ein ganz schlichtes Geschehen. Aber: In
diesen unscheinbaren Formen von Predigt, Taufe und Abendmahl empfangen wir
etwas, was da Herrlichste für’s Leben überhaupt ist, die Zuwendung der Gnade
Gottes.
Noch einmal Kurt
Lüthi: „Immer wieder tritt an die Kirche die Versuchung heran, eine starke
Kirche sein zu wollen mit Einfluß und Ansehen. Wie geschmeichelt sind wir
Kirchenleute, wenn wir mitlaufen dürfen im Triumph der Selbstverherrlichung und
auch etwas gelten! Nein - will die Kirche stark sein, so ist sie schwach. Wo
ihr aber die Gnade genügt, darf sie erfahren, daß sie lebt. Während die Größen
und Gewalten dieser Welt früher oder später wanken und stürzen, lebt sie immer
weiter und darf ein Zeichen dafür sein, daß Gott es mit den Schwachen hält und
auf der Seite der Angefochtenen steht und daß der Ohnmächtige am Kreuz der
allmächtige Retter der Unterlegenen und Verlorenen ist. Denn Christi Kraft ist
in den Schwachen mächtig“. Darum: Der Friede Gottes, der höher ist als unsere
Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in ihm: Jesus Christus unserem Herrn.
Amen