Predigt über Apg. 16, 23-31 ( Sonntag Kantate, 21. 5. 2000 Frühgottesdienst)

Lieder: 288, 1 – 5/ 243, 1+4-6/ 328, 1 – 3/ 108,3

Psalm 98

Lesung: Kol.3, 12-17

Glaubensbekenntnis: Luthers Erklärung zum 2. Artikel (S.1317)

 

 

Vor unserem Predigttext wird erzählt, wie Paulus des Nachts eine Erscheinung sieht: Ein  Mann aus Mazedonien steht da und bittet ihn: Komm herüber und hilf uns!

Damit beginnt die Mission in Europa. Der erste Christ in Europa ist die Purpurkrämerin, die „Boutiquebesitzerin“ Lydia. Und die erste Tat in Europa ist, daß Paulus einen „Wahrsagegeist“ aus einer Magd austreibt – zur Wut ihrer Herren, die mit dieser Gabe Gewinn machten, die sozusagen die Zuhälter dieser Frau, dieser „Hellseherin“ waren. Die Folge ist, daß Paulus und Silas ins Stadtgefängnis geworfen werden. Vorher werden sie noch nackt ausgezogen und geprügelt. Und dann heißt es im heutigen Predigttext:

 

Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen.

 

Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block.

 

Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie.

 

Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so daß die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab.

 

Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.

 

Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!

 

Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen.

 

Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muß ich tun, daß ich gerettet werde?

 

Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!

 

 

Was mag das für ein Mensch gewesen sein, dieser Aufseher, dieser Sicherheitsbeamte im Gefängnis von Philippi, der griechischen  Hafenstadt? Ein „Befehlsempfänger“, hören wir, einer von denen, die Befehle bekommen und befolgen, einer von denen vielleicht, die nicht viel oder nichts dabei empfinden, zu foltern oder wenigstens bei Folterungen dabei zu sein. Die nach oben dienern und nach unten treten. Die ja nur „Befehlen gehorchen“  und ihre „Pflicht tun“, wenn sie Menschen prügeln oder – wie in unserm Text berichtet- in den Block spannen. Paulus und Silas konnten sich – mit ihren offenen Wunden -  nicht mehr bewegen,

 

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mußten bewegungsunfähig ihre Schmerzen ertragen. Wie müssen sich die Minuten gedehnt haben!

 

Und weiter hören wir: Der Gefängnisaufseher war offenbar der einzige, der in dieser Nacht gut schlief, den „Schlaf des Gerechten“ schlief. Nichts hat er gehört von dem Lobgesang des Paulus und des Silas – so wie die anderen Gefangenen, die aufmerksam lauschten auf das im Gefängnis so ungewohnte Singen. Ein Singen, wie es geschehen ist etwa auch im KZ Buchenwald, zB durch den Pastor Paul Schneider aus Dickenschied im Hunsrück, der den lauschenden jüdischen KZ-Häftlingen aus seiner Zelle, aus seinem vergitterten Fenster heraus, an das er angekettet war,  Lieder sang und ihnen Bibelworte zurief, bis er zu Tode geprügelt wurde – von einem, der Befehle befolgte.

 

Und der schnarchende Aufseher in seinem Tiefschlaf scheint nicht mal das Erdbeben wahrgenommen zu haben, das dann geschah. Erst später fährt er aus dem Schlaf auf  - und sieht zu seinem Entsetzen die Gefängnistüren offen. Da greift er zum Dolch: Ein Mann, der weiß, daß er versagt hat, der weiß, daß ihn ein gnadenloses Urteil erwartet. Und dem will er sich durch Selbsttötung entziehen.

 

Auch das hat es immer wieder gegeben: Nach dem 2. Weltkrieg, wo so mancher sich den  Nürnberger Prozessen entziehen wollte, bis hin zu Beispielen aus jüngster Zeit. Man will sich dem Gericht entziehen: und entkommt ihm – jedenfalls dem Jüngsten, dem Letzten Gericht – doch nicht.

 

Aber Paulus verhindert den Selbstmord: Tu dir nichts an, ruft er ihm zu, wir sind alle noch hier.

 

Was für ein Glück, was für einen Dusel hast du gehabt, hätte der Kerkermeister denken können. Nach einigen Minuten hätte er die Fassung wiedergewonnen, die

Gefangenen wieder in Blöcke und Fesseln legen, die Türen wieder schließen lassen können. Und er wäre  – wenn er die Angelegenheit ein bißchen zu seinen Gunsten

geschönt berichtet hätte -  höheren Orts vielleicht gar mit einem Orden ausgezeichnet worden.

 

Aber die Geschichte geht ganz anders weiter: Dieser Gefängnisbeamte findet seine Fassung nicht wieder. Jetzt, wo er Grund gehabt hätte, erleichtert aufzuatmen, verliert er sie völlig. Erst jetzt bricht er richtig zusammen, ist offenbar total am Ende. Er fällt Paulus und Silas zitternd zu Füßen und schreit verzweifelt, wie ein Ertrinkender: Was muß ich tun, um gerettet zu werden!? Er, der doch gerettet zu sein scheint, ist in Wahrheit völlig zerbrochen, etwas im Innersten seines Wesens ist zerbrochen.

 

Das, liebe Gemeinde, ist die Stunde Null in einem Leben, in der Gott ganz nahe ist. Denn da, wo einer erkennt, daß er gerettet werden muß, daß er vor Gott ein Verlorener und Verdammter ist, wie wir eben mit Luther (2. Glaubensartikel) gebetet haben – da ist gleichzeitig ja die Tür zur Barmherzigkeit Gottes weit offen! Wenn einer endlich mal sich nicht mehr versteckt hinter seiner bürgerlichen Wohlanständigkeit („ich habe mir nie etwas zuschulden gekommen lassen“, „ich bin immer ein anständiger Mensch gewesen“): Dann kann er zu der ihn rettenden

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Wahrheit finden, daß Gott ihn um Jesu willen annimmt und in die Arme nimmt, wie der Vater den heimkehrenden Sohn.

 

Diese Stunde Null haben viele Menschen erfahren -  diese Lebenskrise, in der ihnen alles zerbrach, woran sie sich meinten halten und vor sich selbst rechtfertigen zu können: Alle Großen im Reiche Gottes, angefangen von Mose über die Propheten Jesaja oder Jeremia und Petrus beim Fischzug und Paulus vor Damaskus, bis hin zu Blaise Pascal, Luther und Menschen in unseren Tagen. Denn, um einen Satz Luthers zu zitieren: „Wer noch nicht nichts ist, aus dem kann Gott auch noch nicht etwas machen“.

 

Hier geschieht die Wende im Leben eines Menschen, der wirkliche Neuanfang. Hier geschieht eine Wende, die diesen Namen wirklich verdient: weil hier – anders als bei dem, was wir oft „Wende“ nennen - ein wirklicher Neuanfang geschieht, bei dem die Erneuerung in der Tiefe, im Innersten beginnt.

 

Wodurch aber wurde diese Wende, dieser Neuanfang denn ausgelöst? Es ist ganz offensichtlich: Paulus hat sie ausgelöst mit seinem Ruf: Tu dir nichts an, wir sind alle noch hier!  Daß hier Menschen nicht an ihre eigene Rettung dachten, nicht Hals über Kopf aus dem Gefängnis flohen, daß sie n i c h t Schadenfreude oder Genugtuung empfanden darüber, daß diesen Folterer jetzt sein verdientes Schicksal treffen würde – sondern daß ihnen das Leben dieses schlechten Mannes wichtig war – daß sie an seine Freiheit, an Gnade für ihn dachten und darin, ihn vor dem verdienten Gericht –sowohl dem von Menschen wie auch dem Gottes – zu bewahren: das hat seinen völligen Zusammenbruch bewirkt.

 

Wenn ein Mensch Liebe und Fürsorge erfährt – unverdiente Liebe: das kann ihn völlig überwältigen, umwerfen, in die Knie zwingen. Er erlebt darüber die Wehen einer neuen Geburt, die Gott an ihm geschehen läßt.

 

Aber welche Freiheit müssen Menschen haben, daß sie so handeln können, wie Paulus und Silas hier! Welche Freiheit gehört dazu, daß Menschen in ihren Gefängniswärtern und Peinigern nicht „Bestien“ sehen, sondern: Menschen.

 

Mir ist eindrücklich in Erinnerung, wie Martin Niemöller davon geschrieben hat, wie schwer es ihm im KZ Dachau war, sich nicht dem Haß oder der Verabscheuung hinzugeben, sondern daran festzuhalten, daß auch seine SS-Bewacher Menschen, Menschen Gottes waren.

 

Was ist eigentlich das Wunder in dieser Geschichte? Nicht das Erdbeben, das zur rechten Zeit geschah. Sondern dies, daß ein Mensch in seinem Leben an einen Punkt kommt , in dem er zitternd ausruft: Was muß ich tun, daß ich gerettet werde? Aber auch dies wäre ja nicht geschehen, wenn da nicht vorher jenes  merkwürdige Wunder gewesen wäre: Daß zwei Menschen die Freiheit gefunden haben, Gott zu loben, um Mitternacht, in der Tiefe ihrer Not und Schmerzen. Diese Freiheit hat das Evangelium in ihnen ausgelöst. Das bewirkt das Evangelium: daß Menschen singen können – auch im Dunkel, weil ihnen auch da die Gnadensonne Gottes scheint.

 

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„Teneo quia teneor“: das war die Losung der Bekennenden Kirche im „Dritten Reich“: Ich halte fest, ich halte aus –weil ich gehalten werde!  Dies ist offenbar eine reale Erfahrung von Christen. Sie kommt von Ostern her, vom Wissen um die insgeheim schon überwundene Welt, um das seit Ostern angebrochene Reich Gottes, das Reich der Freiheit, in das Jesus uns hineinruft.

 

„Was muß ich tun, daß ich gerettet werde?“ Wenn uns das einer fragen würde – wenn wir vielleicht selber so fragen – was ist die Antwort? Ist die Antwort vielleicht: Werde ein besserer Mensch, bemühe dich immer strebend um gute Taten...? Oder ist die Antwort: Finde dich einfach gut, denke positiv ...?

 

Paulus antwortet: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus gerettet!“

 

Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus – deine Familie, deine Nachbarschaft wird davon nicht unberührt bleiben! – so wirst du und dein Haus gerettet werden. Amen.

 

 

Weitere Predigten von Pfarrer Martin Quaas, Essen-Rellinghausen, finden Sie unter www.martin-quaas.de/predigten.