(Pfarrer Martin Quaas)
So jemand
spricht: Ich liebe Gott... 412, 1.2.6-8
Mein erst Gefühl...451,
5 – 10
Psalm 113
Lesung:
Markus 12, 28 -34
Im
Gottesdienst: Flötenmusik aus dem Mittelalter und Gesangsstücke mit Texten von
Hildegard von Bingen (Ingeborg Deck)
Liebe
Gemeinde,
im heutigen
Predigttext aus dem Jakobusbrief Kapitel 2 Vers 1 – 10 und 13 schreibt Jakobus,
der erste Bischof in Jerusalem, vielleicht einer der Brüder Jesu, Märtyrer
durch Steinigung im Jahr 62:
Liebe Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus
Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.
Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem
goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in
unsauberer Kleidung
und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und
sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem
Armen: Stell du dich dorthin! oder: setze dich unten zu meinen Füßen!,
ist’s recht, daß ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?
Hört zu, meine Lieben! Hat nicht Gott erwählt die Armen in
der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat
denen, die ihn liebhaben?
Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die
Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen?
Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt
ist?
Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3.
Mose 19,18): „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, so tut ihr recht;
wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter...
(Darum) redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz
der Freiheit gerichtet werden sollen.
Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen,
der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das
Gericht.
2
I
„Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht!“ Welch eine Aussicht! Welch eine alles verändernde Zusage!
Einmal – wir
mögen’s glauben oder nicht, und in jedem Fall ist zuzugeben: es ist und bleibt
absolut unbegreiflich: Einmal werden
die Menschen aller Völker, auch wir, auch unsere Angehörigen, auch die
Menschen, die wir verletzten, und die Menschen,die an uns schuldig wurden,
einmal werden sie, werden wir alle vor Gott stehen, und jeder Gedanke und jede
Empfindung, jedes Wort und jede Tat, aber auch jede unterlassene Hilfeleistung
wird wieder ans Licht kommen – und Gott wird das Urteil sprechen.
Mittelalterliche
Musik hören wir in diesem Gottesdienst, Musik und Lieder aus einer Zeit, in der
die Menschen in großer Furcht und Herzensangst vor diesem Letzten, diesem
Jüngsten Gericht Gottes waren - bis
schließlich die Reformatoren für unendlich viele das erlösende, das
erleichternde, das befreiende Wort sprachen –
eben dieses: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht!
Du darfst dich darauf verlassen: Jesus am Kreuz hat statt deiner das getragen,
was du zu Recht verdient hättest, und dir - dir gilt jetzt und in Ewigkeit um
seiner willen das Erbarmen Gottes!
Ich glaube
manchmal, heute sind wir wenig auf diese Zukunft des Lebens und der Welt
ausgerichtet. Ich fürchte sogar, manch einer findet, davon zu reden, nur
störend oder gar langweilig. Man muß doch „aktuell“ sein in der Predigt,
„zeitnah“, auf die Gegenwart ausgerichtet. Wir leben offenbar in einer Zeit, in
der die Zukunft kaum eine Rolle spielt.
Stattdessen: „Wir wollen alles – und zwar jetzt!“ So
könnte man die Stimmung unserer Zeit pointiert zusammenfassen. Wir wollen uns
nicht auf später vertrösten lassen, wir wollen und können nicht warten, wir
haben keine Zeit. Die Weltzeit ist zusammengeschrumpft auf unsere persönliche
Lebenszeit. Wir denken an keine Zukunft, die weit vor uns liegt, an eine
Ewigkeit schon gar nicht - wir wollen
alles, und zwar jetzt!
Dadurch liegt
auf jedem ein unerhörter Druck. Es kann Hektik aufkommen, und die einen werden
atemlos, rastlos, die andern sind total gelähmt, weil sie überhaupt nicht mehr
sehen: Was ziehe ich vor? Wenn ich das eine tue, verpasse ich das andere und
das geht doch nicht...
Ich glaube,
diese Grundstimmung prägt auch uns Christen, auch wir verlieren den langen
Atem,die weite Perspektive, die Ewigkeitsaussicht, wir bieten in den Gemeinden stattdessen allerlei an – für jetzt,
für gleich: Unterhaltung, Harmonie...das entspricht den Kundenwünschen, ist
marktkonform. Manche beurteilen inzwischen auch die Gottesdienste nach
Unterhaltungsmaßstäben, stellen den Gemeindegottesdienst unter die
(egoistische?) Frage: „Was bringt er mir?“
Aber die Bibel
sagt klipp und klar: Es gibt ein Ziel,
nicht nur meines Lebens, sondern der gesamten Schöpfung, des gesamten
Universums. Einen Zielpunkt, auf den
alles Geschehen hinausläuft - das
kleinste, unscheinbarste, wie das gewaltigste,unbegreiflichste...und dieses
Ziel, diese Vollendung alles Geschaffenen und alles Lebens, die soll – so sagt
das Evangelium – nicht mehr ein Gefühl der Ungewißheit in uns auslösen und
schon gar nicht ein uninteressiertes Achselzucken
(„nichts
Genaues weiß man nicht“, „St. Nimmerleinstag“), sondern stattdessen: eine
sehnsüchtige Ungeduld, ein gespanntes Erwarten, ja: große Freude und Vorfreude: Barmherzigkeit wird über das
Gericht triumphieren! Das Erbarmen
Gottes wird sich als mächtiger erweisen als alles gerechte Richten, Liebe wird
triumphieren über harte Verurteilungen, über gnadenlose Gerechtigkeit! Gott
sei Dank! Wir können aufatmen!
II
Eine ungeheure
Entlastung und Erleichterung kann nun die prägende Kraft unseres Lebens sein –
und jetzt haben wir auch einen klaren Maßstab für das, was wirklich wichtig ist
für‘s Leben und was nicht. Ich brauche nicht mehr „alles“ haben, alles
auskosten, alles konsumieren, brauche nicht mehr von der Angst gehetzt sein,
ich könnte etwas verpassen, bevor’s zu spät ist.
Ich b i n wer! Bin geliebt bei Gott, bin erlöst,
gerettet, begnadigt, befreit – und der oder die andere neben mir ebenso
unverdient und bedingungslos!
Es gibt ein
berühmtes Buch des Psychoanalytikers Erich Fromm mit dem Titel „Haben statt
Sein“. Darin zeigt er, wie sehr wir uns und andere nach dem beurteilen, was wir
„haben“. Früher war’s vor allem (aber auch heute noch) das dicke, schicke Auto,
die Möbel, inzwischen sind‘s vor allem „die Klamotten“, oder die Dinge, die
ständig neu auf den Markt gebracht werden – und die Leute reagieren auf die
Kaufreize wie Pawlow’s Hund: Die „Dinowelle“ vor einigen Jahren brachte
Milliarden ein, dann kamen Nintendos, Inline skater,Pokémons, jetzt die Roller, ich hörte, im
Rüttenscheider Aldi habe es, als sie vor vier Wochen angeboten wurden,
Schlägereien
um sie gegeben, oder – ein anderes Beispiel: Das Nonsens-Lied von Stefan Raab:
„Hol mir mal ‚ne Flasche Bier“ ist inzwischen eine halbe Million mal verkauft
worden und im Augenblick kaufen die Leute wie verrückt das Buch von Harry
Potter...Die Leute kaufen einfach
alles,was mit Werberummel angeboten wird, sie reagieren wie Pawlows Hund. Haben
statt Sein.
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Stattdessen,
sagt Fromm, geht’s darum, im Wissen zu leben: Du bist wer! Ganz unabhängig von deinem Haben.
Wie würdevoll
sind oft Menschen aus südlichen, aus wirtschaftlich armen Ländern, eindrucksvolle Charaktere, wie innerlich
frei (solange sie nicht von unserem Konsum korrumpiert werden): Sie sind wer!
Und auch wir!
Geliebte Gottes! Seine Erwählten! Gottes Erben! Seine Partner! Königskinder!
Wir brauchen
uns und andere nicht nach äußeren Maßstäben mehr zu beurteilen, wir können
jedem, unabhängig von Äußerem, mit Hochachtung und Ehrerbietung begegen.
III
Das zeigt
Jakobus an einem schlagenden Beispiel: Stellt
euch vor, in eure Versammlungen käme ein Mann mit goldenen Ringen und
prächtiger Kleidung und zugleich ein Armer in unsauberer Kleidung und ihr seht
auf den, der prächtig gekleidet ist und sagt ihm: setz dich hierher auf den
guten Platz und dem Armen: Stell‘ dich da unten hin – ist’s recht, daß ihr das
tut und urteilt mit bösen Gedanken?
Also: Stellen
wir uns vor: Da käme jetzt Prof. Dr. Bertold Beitz, Kuratoriumsvorsitzender der
Kruppstiftung, Zweireiher,
Nadelstreifen, blütenweißes Tüchlein, oder Dr. Keitel, Chef der Baufirma
Hochtief, smart, elegant, oder der Oberbürgermeister Dr. Reiniger, sportliche
Figur, herein und mit einem von ihnen zugleich einer von den alkoholkranken
Menschen ohne festen Wohnsitz, die man am Stadtwaldplatz sehen kann – wie
würden wir reagieren? Würden wir beide mit gleichem Respekt begrüßen? Weil ja
beide in gleicher Weise Kinder Gottes sind?
Ich fürchte:
Je angesehener und erfolgreicher einer im außerkirchlichen Leben ist, desto
eher hat er einen Platz auch in der Mitte unseres innerkirchlichen Lebens, je
mehr einer ein Außenseiter, Versager, Habenichts ist oder gar drogenkrank, äußerlich abstoßend, desto weniger
ehrenvoll finden wir auch seine Teilnahme am kirchlichen Leben.
Aber schreibt
nicht Paulus (1. Kor.1): Was schwach ist
vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschaden mache, was stark ist,
und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was
nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor
Gott rühme...!?
Und unser
Herr, der Herr der Kirche, der kommende Richter aller Welt, „der Herr der
Herrlichkeit“, wie er hier genannt wird – wer ist denn der? Im Futtertrog zur
Welt gekommen, mit seinen Eltern ein Asylsuchender in Ägypten, ein
Wanderprediger ohne feste Habe und Bleibe: Als gotteslästerlicher Aufrührer
stirbt er zwischen zwei Terroristen...Die Armen preist er selig, weil sie nun
einen Platz im Reich Gottes haben, einen Platz neben den Fürsten und
Wohlhabenden. Die von den „Hecken und
Zäunen“ ruft
er in die Tischgemeinschaft im Reich Gottes...Der arme Lazarus soll nun nicht
mehr von den Brosamen, die die Reichen fallen lassen, sein Dasein fristen,
5
sondern er
wird mit an den Tisch geholt! Auf heute übertragen: Die Müllmänner bei uns und die Kinder in den Müllhalden vor
Manila und die von alternden Männern sexuell mißbrauchten Jungen in Thailand
und die Elendsgestalten am Hauptbahnhof neben
Bill Gates, Kanzler Schröder, Verona Feldbusch... einer voll Ehrerbietung
zum andern. - Nein, da ist schon noch ein Unterschied: Besondere Ehrerbietung gilt den Kranken, Hungernden, Nackten,
Gefangenen, Fremden – gemäß dem „letzten Wort“ Jesu im Matthäusevangelium (Mt.
25, 40): Mir selbst werdet ihr begegnen, mich selbst sollt ihr finden in
ihnen, in den geringsten Menschen.
Uns, den
Reichen und Wohl-Habenden dagegen gilt sein „Wehe euch“! Nicht weil wir
schlechtere Menschen wären, das sind wir ja nicht. Sondern weil Reichtum und viel
Habe hinderlicher Ballast sein kann – nicht: muß! - für ein freies, Gott
vertrauendes Leben. Und weil Reichtum leicht zum Immer-mehr-haben-wollen
verführt. Ein Beispiel von vielen: Ich hörte bei unserer Gemeindefahrt nach
Brno in Tschechien: die Prager Innenstadt mit all ihren Gebäuden sei fest in
ausländischer Hand, die Bewohner habe man oft mit brutalen Zwangsmitteln – z.B
indem man die Mieten rigoros erhöhte
und bei Zahlungsunfähigkeit ihnen Wasser oder Strom abstellte - zum Ausziehen
gezwungen. Das ist die Kehrseite des touristisch so sehr gepriesenen „goldenen
Prag“.
Armut dagegen
bedeutet oft Reichtum an Glauben, wie es Jakobus sagt: „Hat nicht Gott die Armen dieser Welt erwählt, die reich sind im
Glauben und Erben seines Reiches?“
All dies,
liebe Gemeinde, was ich sagte, all dies ist Folge des unerhört schönen Satzes
voll herrlicher Wahrheit: „Barmherzigkeit
triumphiert über das Gericht!“
Freudenquelle
unseres Lebens, Quelle unserer Lebenskraft, Maßstab für all unser Tun und
Lassen kann nun sein: Die Barmherzigkeit Gottes, die er den Menschen hinter,
„unter“ und neben uns, aber auch uns selbst zuwendet – aus ihr dürfen wir
leben, nach ihr alle und jeden beurteilen.
Denn: „Ein unbarmherziges Gericht wird über den
ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert
über das Gericht“. Amen.