Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis,22. Oktober 2000,  über Jakobus 2, 1-10 und 13

(Pfarrer Martin Quaas)

 

Lieder:

Gott des Himmels und der Erden...445,1-5

Ich freu mich in dem Herren...349

So jemand spricht: Ich liebe Gott... 412, 1.2.6-8

Mein erst Gefühl...451, 5 – 10

 

Psalm 113

 

Lesung: Markus 12, 28 -34

 

Im Gottesdienst: Flötenmusik aus dem Mittelalter und Gesangsstücke mit Texten von Hildegard von Bingen (Ingeborg Deck)                                                                     

 

 

Liebe Gemeinde,

 

im heutigen Predigttext aus dem Jakobusbrief Kapitel 2 Vers 1 – 10 und 13 schreibt Jakobus, der erste Bischof in Jerusalem, vielleicht einer der Brüder Jesu, Märtyrer durch Steinigung im Jahr 62:

 

Liebe Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.

Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung

und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: setze dich unten zu meinen Füßen!,

ist’s recht, daß ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?

Hört zu, meine Lieben! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn liebhaben?

Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen?

Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist?

Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3. Mose 19,18): „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, so tut ihr recht;

wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter...

(Darum) redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen.

Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.

 

 

 

 

 2

 

                                                                       I

 

„Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht!“ Welch eine Aussicht! Welch eine alles verändernde Zusage!

 

Einmal – wir mögen’s glauben oder nicht, und in jedem Fall ist zuzugeben: es ist und bleibt absolut unbegreiflich:  Einmal werden die Menschen aller Völker, auch wir, auch unsere Angehörigen, auch die Menschen, die wir verletzten, und die Menschen,die an uns schuldig wurden, einmal werden sie, werden wir alle vor Gott stehen, und jeder Gedanke und jede Empfindung, jedes Wort und jede Tat, aber auch jede unterlassene Hilfeleistung wird wieder ans Licht kommen – und Gott wird das Urteil sprechen.

 

Mittelalterliche Musik hören wir in diesem Gottesdienst, Musik und Lieder aus einer Zeit, in der die Menschen in großer Furcht und Herzensangst vor diesem Letzten, diesem Jüngsten Gericht Gottes waren  - bis schließlich die Reformatoren für unendlich viele das erlösende, das erleichternde, das befreiende Wort sprachen –

eben dieses: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht! Du darfst dich darauf verlassen: Jesus am Kreuz hat statt deiner das getragen, was du zu Recht verdient hättest, und dir - dir gilt jetzt und in Ewigkeit um seiner willen das Erbarmen Gottes!

 

Ich glaube manchmal, heute sind wir wenig auf diese Zukunft des Lebens und der Welt ausgerichtet. Ich fürchte sogar, manch einer findet, davon zu reden, nur störend oder gar langweilig. Man muß doch „aktuell“ sein in der Predigt, „zeitnah“, auf die Gegenwart ausgerichtet. Wir leben offenbar in einer Zeit, in der die Zukunft kaum eine Rolle spielt. 

 

Stattdessen: „Wir wollen alles – und zwar jetzt!“ So könnte man die Stimmung unserer Zeit pointiert zusammenfassen. Wir wollen uns nicht auf später vertrösten lassen, wir wollen und können nicht warten, wir haben keine Zeit. Die Weltzeit ist zusammengeschrumpft auf unsere persönliche Lebenszeit. Wir denken an keine Zukunft, die weit vor uns liegt, an eine Ewigkeit schon gar nicht -  wir wollen alles, und zwar  jetzt!

 

Dadurch liegt auf jedem ein unerhörter Druck. Es kann Hektik aufkommen, und die einen werden atemlos, rastlos, die andern sind total gelähmt, weil sie überhaupt nicht mehr sehen: Was ziehe ich vor? Wenn ich das eine tue, verpasse ich das andere und das geht doch nicht...

 

Ich glaube, diese Grundstimmung prägt auch uns Christen, auch wir verlieren den langen Atem,die weite Perspektive, die Ewigkeitsaussicht,  wir bieten in den Gemeinden stattdessen allerlei an – für jetzt, für gleich: Unterhaltung, Harmonie...das entspricht den Kundenwünschen, ist marktkonform. Manche beurteilen inzwischen auch die Gottesdienste nach Unterhaltungsmaßstäben, stellen den Gemeindegottesdienst unter die (egoistische?)  Frage: „Was bringt er mir?“

 

 

 

 

3

 

Wohlgemerkt: Natürlich soll der Gottesdienst auch uns „etwas geben“,schön und wohltuend sein für uns, aber zu dem befreienden Geschehen in ihm gehört doch auch gerade dies, daß wir hier nicht um uns kreisen, sondern Gott loben, Gott die Ehre geben dürfen.

 

Im Ganzen: Die Ewigkeit, das Wiederkommen Christi in Herrlichkeit, das Verantwortenmüssen jedes Wortes vor ihm, dem Richter des All – diese weite Perspektive scheint wenig im Blick.

 

Aber die Bibel sagt klipp und klar: Es gibt ein Ziel, nicht nur meines Lebens, sondern der gesamten Schöpfung, des gesamten Universums. Einen  Zielpunkt, auf den alles Geschehen hinausläuft -  das kleinste, unscheinbarste, wie das gewaltigste,unbegreiflichste...und dieses Ziel, diese Vollendung alles Geschaffenen und alles Lebens, die soll – so sagt das Evangelium – nicht mehr ein  Gefühl der Ungewißheit in uns auslösen und schon gar nicht ein uninteressiertes Achselzucken

(„nichts Genaues weiß man nicht“, „St. Nimmerleinstag“), sondern stattdessen: eine sehnsüchtige Ungeduld, ein gespanntes Erwarten, ja: große Freude und  Vorfreude: Barmherzigkeit  wird über das Gericht triumphieren! Das Erbarmen Gottes wird sich als mächtiger erweisen als alles gerechte Richten, Liebe wird triumphieren über harte Verurteilungen, über gnadenlose Gerechtigkeit! Gott sei Dank! Wir können aufatmen!

 

                                                                       II

 

Eine ungeheure Entlastung und Erleichterung kann nun die prägende Kraft unseres Lebens sein – und jetzt haben wir auch einen klaren Maßstab für das, was wirklich wichtig ist für‘s Leben und was nicht. Ich brauche nicht mehr „alles“ haben, alles auskosten, alles konsumieren, brauche nicht mehr von der Angst gehetzt sein, ich könnte etwas verpassen, bevor’s zu spät ist.

 

Ich b i n  wer! Bin geliebt bei Gott, bin erlöst, gerettet, begnadigt, befreit – und der oder die andere neben mir ebenso unverdient und  bedingungslos!

 

Es gibt ein berühmtes Buch des Psychoanalytikers Erich Fromm mit dem Titel „Haben statt Sein“. Darin zeigt er, wie sehr wir uns und andere nach dem beurteilen, was wir „haben“. Früher war’s vor allem (aber auch heute noch) das dicke, schicke Auto, die Möbel, inzwischen sind‘s vor allem „die Klamotten“, oder die Dinge, die ständig neu auf den Markt gebracht werden – und die Leute reagieren auf die Kaufreize wie Pawlow’s Hund: Die „Dinowelle“ vor einigen Jahren brachte Milliarden ein, dann kamen Nintendos, Inline skater,Pokémons,  jetzt die Roller, ich hörte, im Rüttenscheider Aldi habe es, als sie vor vier Wochen angeboten wurden,

Schlägereien um sie gegeben, oder – ein anderes Beispiel: Das Nonsens-Lied von Stefan Raab: „Hol mir mal ‚ne Flasche Bier“ ist inzwischen eine halbe Million mal verkauft worden und im Augenblick kaufen die Leute wie verrückt das Buch von Harry Potter...Die Leute kaufen  einfach alles,was mit Werberummel angeboten wird, sie reagieren wie Pawlows Hund. Haben statt Sein.

 

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Stattdessen, sagt Fromm, geht’s darum, im Wissen zu leben: Du bist wer! Ganz unabhängig von deinem Haben.

 

Wie würdevoll sind oft Menschen aus südlichen, aus wirtschaftlich armen Ländern,  eindrucksvolle Charaktere, wie innerlich frei (solange sie nicht von unserem Konsum korrumpiert werden): Sie sind wer!

 

Und auch wir! Geliebte Gottes! Seine Erwählten! Gottes Erben! Seine Partner! Königskinder!

 

Wir brauchen uns und andere nicht nach äußeren Maßstäben mehr zu beurteilen, wir können jedem, unabhängig von Äußerem, mit Hochachtung und Ehrerbietung begegen.

                                                                       III

 

Das zeigt Jakobus an einem schlagenden Beispiel: Stellt euch vor, in eure Versammlungen käme ein Mann mit goldenen Ringen und prächtiger Kleidung und zugleich ein Armer in unsauberer Kleidung und ihr seht auf den, der prächtig gekleidet ist und sagt ihm: setz dich hierher auf den guten Platz und dem Armen: Stell‘ dich da unten hin – ist’s recht, daß ihr das tut und urteilt mit bösen Gedanken?

 

Also: Stellen wir uns vor: Da käme jetzt Prof. Dr. Bertold Beitz, Kuratoriumsvorsitzender der Kruppstiftung,  Zweireiher, Nadelstreifen, blütenweißes Tüchlein, oder Dr. Keitel, Chef der Baufirma Hochtief, smart, elegant, oder der Oberbürgermeister Dr. Reiniger, sportliche Figur, herein und mit einem von ihnen zugleich einer von den alkoholkranken Menschen ohne festen Wohnsitz, die man am Stadtwaldplatz sehen kann – wie würden wir reagieren? Würden wir beide mit gleichem Respekt begrüßen? Weil ja beide in gleicher Weise Kinder Gottes sind?

 

Ich fürchte: Je angesehener und erfolgreicher einer im außerkirchlichen Leben ist, desto eher hat er einen Platz auch in der Mitte unseres innerkirchlichen Lebens, je mehr einer ein Außenseiter, Versager, Habenichts  ist oder gar drogenkrank, äußerlich abstoßend, desto weniger ehrenvoll finden wir auch seine Teilnahme am kirchlichen Leben.

 

Aber schreibt nicht Paulus (1. Kor.1): Was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschaden mache, was stark ist, und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme...!?

 

Und unser Herr, der Herr der Kirche, der kommende Richter aller Welt, „der Herr der Herrlichkeit“, wie er hier genannt wird – wer ist denn der? Im Futtertrog zur Welt gekommen, mit seinen Eltern ein Asylsuchender in Ägypten, ein Wanderprediger ohne feste Habe und Bleibe: Als gotteslästerlicher Aufrührer stirbt er zwischen zwei Terroristen...Die Armen preist er selig, weil sie nun einen Platz im Reich Gottes haben, einen Platz neben den Fürsten und Wohlhabenden. Die von den „Hecken und

Zäunen“ ruft er in die Tischgemeinschaft im Reich Gottes...Der arme Lazarus soll nun nicht mehr von den Brosamen, die die Reichen fallen lassen, sein Dasein fristen,

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sondern er wird mit an den Tisch geholt! Auf heute übertragen:  Die Müllmänner bei uns und die Kinder in den Müllhalden vor Manila und die von alternden Männern sexuell mißbrauchten Jungen in Thailand und die Elendsgestalten am Hauptbahnhof neben Bill Gates, Kanzler Schröder, Verona Feldbusch... einer voll Ehrerbietung zum andern. - Nein, da ist schon noch ein Unterschied: Besondere Ehrerbietung gilt den Kranken, Hungernden, Nackten, Gefangenen, Fremden – gemäß dem „letzten Wort“ Jesu im Matthäusevangelium (Mt. 25, 40): Mir selbst werdet ihr begegnen, mich selbst sollt ihr finden in ihnen,  in den  geringsten Menschen.

 

Uns, den Reichen und Wohl-Habenden dagegen gilt sein „Wehe euch“! Nicht weil wir schlechtere Menschen wären, das sind wir ja nicht. Sondern weil Reichtum und viel Habe hinderlicher Ballast sein kann – nicht: muß! - für ein freies, Gott vertrauendes Leben. Und weil Reichtum leicht zum Immer-mehr-haben-wollen verführt. Ein Beispiel von vielen: Ich hörte bei unserer Gemeindefahrt nach Brno in Tschechien: die Prager Innenstadt mit all ihren Gebäuden sei fest in ausländischer Hand, die Bewohner habe man oft mit brutalen Zwangsmitteln – z.B indem  man die Mieten rigoros erhöhte und bei Zahlungsunfähigkeit ihnen Wasser oder Strom abstellte - zum Ausziehen gezwungen. Das ist die Kehrseite des touristisch so sehr gepriesenen „goldenen Prag“.

 

Armut dagegen bedeutet oft Reichtum an Glauben, wie es Jakobus sagt: „Hat nicht Gott die Armen dieser Welt erwählt, die reich sind im Glauben und Erben seines Reiches?“

 

 

 

All dies, liebe Gemeinde, was ich sagte, all dies ist Folge des unerhört schönen Satzes voll herrlicher Wahrheit: „Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht!“

 

Freudenquelle unseres Lebens, Quelle unserer Lebenskraft, Maßstab für all unser Tun und Lassen kann nun sein: Die Barmherzigkeit Gottes, die er den Menschen hinter, „unter“ und neben uns, aber auch uns selbst zuwendet – aus ihr dürfen wir leben, nach ihr alle und jeden beurteilen.

 

Denn: „Ein unbarmherziges Gericht wird über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht“. Amen.

 

 

 

 




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