Gottesdienst am Sonntag Palmarum, 16. April 2000 (Pfarrer Martin Quaas)

 

Lieder: 452/ 96/ 87/ 398,1

Psalm: Phil.2,5 – 11

Lesung: Johannes 12, 12 - 19

 

Predigt über Jesaja 50, 4 – 9

 

 

 

Liebe Gemeinde,

 

im heutigen Predigttext sagt ein Mensch merkwürdige Dinge über sich selbst. Wir wissen nicht, wer er ist. Wir kennen seinen Namen nicht. Aber einiges über ihn hören wir in Textabschnitten, die im zweiten Teil des Jesajabuches (Jesaja 40 – 55) verstreut sind: man nennt sie die Gottesknechtslieder, und ihn selbst den Knecht Gottes.

 

Was für ein merkwürdiger Titel: Knecht Gottes – also einer, der ganz und gar im Gehorsam gegen Gott redet und handelt. Wer mag er sein, dieser Knecht Gottes?

 

Er sagt im heutigen Predigttext, in Jesaja 50 V 4 - 9 dies von  sich:

 

Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, daß ich wisse, mit den Müden zu reden zu rechter Zeit. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören.

Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.

Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.

Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein  Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, daß ich nicht zuschanden werde.

Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Laßt uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!

Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.

 

Ein rätselhafter Mensch. Wir hören von ihm: Er ist geprügelt worden, vielleicht mit einem Stock, oder einer Geißel – und hat seinen Rücken freiwillig den Schlägern dargeboten. Er hat sich ins Gesicht schlagen lassen, er ist angespuckt worden. Er hat sein Antlitz nicht davor abzuwenden gesucht, hat das geschehen lassen, hat denen, die ihm das antaten, ins Gesicht gesehen. Und – merkwürdig -   was er sagt, klingt nicht leidend, schon gar nicht wehleidig. Es klingt im Gegenteil überraschend selbstbewußt. Er wird geohrfeigt und bespuckt und sagt: „Ich habe mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein, denn ich weiß, daß ich nicht zuschanden werde“. Ja, er fordert seine Feinde und Folterer heraus und sagt: Wollt ihr mit mir rechten? Dann laßt uns zusammen vor Gericht treten, da wollen wir sehen, wer Recht bekommt. Das klingt, als sei er seiner selbst ganz gewiß. Dieser Mensch ist ohne Menschenfurcht – und darin, auch darin, ganz anders als wir.

2

 

Nicht wahr, wir überlegen doch bei fast allem, was wir sagen oder tun: „Was denken die anderen?“ Wir kennen auch die Wehleidigkeit. Uns geht es eigentlich immer ein  bißchen schlecht. Die andern sind immer ein bißchen besser dran als wir. Ist es nicht so, daß wir im Grunde ständig um unsere Sorgen kreisen?

 

                                                                       I

 

Aber bei diesem Knecht Gottes ist das ganz anders, und wir fragen ihn: Woher kommt denn deine Ruhe, deine Gelassenheit, dein Selbstbewußtsein mitten in Leid und Verhöhnung, mitten in all dem Unrecht, das dir angetan wird?

 

Und er antwortet: „Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, daß ich wisse, mit den Müden zu reden zur rechten Zeit. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören“.“

 

Zwei unserer sog. Sinnesorgane nennt er, die Zunge und das Ohr, das Reden und das Hören. Zwei Sinnesorgane, die – wie die anderen allerdings auch – über die Maßen wundervoll und geheimnisvoll sind (wie ich übrigens im Laufe der Jahre überhaupt immer mehr ins Staunen gerate über all das Wundervolle, Rätselhafte und Geheimnisvolle, das zu unserem menschlichen Leben und zur Schöpfung gehört).

 

Die Zunge! Wir bewegen sie zusammen mit den Lippen, bringen durch sie die Luft vor uns in Schwingungen  - und wir bewirken Verstehen beim  anderen Menschen! Aber noch viel mehr: Wir lösen Gefühle, Empfindungen aus, wir können mit ihr menschliches Leben vergiften, tief verletzen und  ganz zerstören, aber auch Freudentränen, Glück und Dankbarkeit auslösen...

 

Das Ohr: Es kann neugierig oder mißtrauisch auf Informationen aussein, um sie dann als Klatsch und Tratsch unter die Leute zu bringen. Es kann aber auch hellhörig sein für verborgene Empfindungen bei  anderen Menschen. Es kann heraushören, wenn einer verängstigt ist oder müde...

 

 

Wie kann das Ohr solch eine Feinfühligkeit gewinnen?  Der Gottesknecht sagt: „Alle Morgen weckt Gott mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören.“

 

Gott erweckt täglich neu bei ihm die Gabe, daß er hören kann, wie Jünger auf ihren geliebten Lehrmeister. Und Gott gibt ihm einen Auftrag.  Und dieser Auftrag lautet: "Mit den Müden zu reden zur rechten Zeit". 

 

Mit den Müden reden – zur rechten Zeit.

 

Die Müden: Das waren damals die Landsleute dieses Knechtes. Wir wissen: Sie waren Heimatvertriebene, Deportierte, Verschleppte. In Babylon müssen sie

Sklavenarbeit verrichten. Jerusalem mitsamt dem Tempel war in Schutt und Asche gelegt worden, die kostbaren Tempelgeräte waren geraubt und entweiht worden, sie wurden für Freß- und Trinkgelage mißbraucht. Gott selbst war den nach Babylon

 

 

3

 

Deportierten dunkel geworden, er hatte sie offenbar verlassen – und diese Verlassenheit wollte kein Ende nehmen. „Müde“ sind sie, glaubensmüde.

 

 

 

                                                                       II

 

Ob eine oder einer von Ihnen so etwas auch kennt?

 

Solch eine Müdigkeit kann einen Menschen schon mal wie aus heiterem Himmel überfallen, sie kann Menschen lange festhalten – nur, sie zeigen es nicht. Man muß ja nach außen hin immer flott, souverän, „gut drauf“ sein. Wo darf denn einer schon mal aussprechen und  zeigen, daß er müde ist? Wo darf er aussprechen, daß er nicht mehr weiterweiß, nicht mehr weiterkann, daß alle Kräfte aus seiner Seele weggegangen sind, daß er keine Ziele mehr kennt, für die es sich zu leben lohnt...

Etwa dann, wenn einer den geliebten Menschen verloren hat, das vielleicht Allerschlimmste im Leben überhaupt.

 

Oder: Es gibt Menschen - ich höre das immer öfter in unserer Gemeinde, in  der ja viele in wirtschaftlichen Bereichen tätig sind - denen sagt und zeigt man inzwischen mit Mitte Vierzig, daß sie nicht mehr gefragt sind, daß sie zu alt sind, daß sie, wie das scheußliche Wort lautet, „freigesetzt“ werden...

 

Man wird müde, man ist – durch eigene oder fremde Schuld -  abgehängt, abgekoppelt vom vollen Leben, und oft dann auch vom Glauben, den man

vielleicht früher einmal hatte – und will und kann auch nicht mehr beten.

 

Glaubensmüdigkeit, Hoffnungsmüdigkeit.

 

Der Knecht Gottes sagt von sich: Ich bin für die Müden da! Mein Auftrag, meine Lebensaufgabe ist, auf sie zu hören und mit ihnen zu reden – zur rechten Zeit!

 

Es gibt also von Gott her eine Seelsorge für die Müden. Dieser Knecht hier ist Gottes Beauftragter in einer Welt, in der die Müden nicht hoch im Kurs stehen. Denn wir alle halten es doch eher mit den Starken, Gutaussehenden, Dynamischen und möchten auch selbst gern auf die Sonnenseite des Lebens gehören mit Ansehen, Geld, Vitalität und sonstigen Vorzügen. Aber Gott will bei denen sein, die im Schatten stehen.

 

Die Wirtschaft kann keine „Müden“ gebrauchen. Aber bei Gott stehen sie hoch im Kurs. Gott versteht sie offenbar, er weiß , wie ihnen zumute ist. Darum schickt er seine Knechte zu ihnen, den Knecht Gottes, von dem wir hier hören – und andere, viele andere,  bekannte und unbekannte.

 

                                                                       III

 

An dreierlei Kennzeichen kann man sie erkennen.

 

 

4

 

Einmal: Gottes Kraft ist in ihnen mächtig. Gott selbst handelt an ihnen: Er macht sie fähig zum Hören und er gibt ihnen die guten, heilenden, tröstenden Worte auf die Lippen - und das Gespür, wann es die rechte Zeit ist sie auszusprechen!

 

Das zweite: Diese Knechte haben offenbar Widerstände, Anfeindungen zu erwarten  - so wie der Knecht hier, aber auch viele andere Seelsorger im Auftrag Gottes, bekannte wie Martin Luther King, Gertrude Stein, Bischof Romero, Mutter Teresa,

Bischof Scharf... aber genauso die unzähligen unbekannten Gottesmägde und – knechte.

 

Und das dritte: Das ist diese wunderbare innere Freiheit, ja – vielleicht muß man sagen – dieser Glaubensstolz, dieses Wissen um die Nähe Gottes, dieses Bewußtsein, sich ganz und gar auf Gott verlassen zu können, durch ihn geradezu unverwundbar, unbesiegbar zu sein: „Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden...er ist nahe, der mich gerecht spricht... wer will mich verdammen?“

 

 

                                                           IV

 

Aber nun klingen für einige Kundige unter uns hier Worte an, die der Apostel Paulus in Römer 8 jubelnd und überaus dankbar ausspricht: Wer will uns jetzt noch verdammen?  Christus Jesus ist hier, den Gott für uns alle dahingegeben hat, der nun zur Rechten Gottes ist und uns vertritt...durch den Gott uns gerecht spricht.

 

Dieser unbekannte, anonyme Knecht Gottes hat für uns Christen einen Namen bekommen, den Namen dessen, der gesagt hat, und jetzt auch zu uns hier sagt:  „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“.

 

Jesus – der Seelsorger an soviel müden, überbelasteten, hoffnungslosen Menschen! Jesus, von dem wir gerade in den Passionsandachten wieder gehört haben, wie sie ihn prügelten, ins Angesicht schlugen, ihn anspuckten...Von ihm sagt das letzte der Gottesknechtslieder, das wir dann zu Karfreitag hören werden: „Er trug unsere Krankheit und nahm auf sich unsere Schmerzen...Die Strafe liegt auf ihm, auf das wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“. Jesus -  der  Knecht Gottes, der uns in die Freiheit ruft. Jesus, die Freude in unserem Leide.

 

Er kann auch uns die Ohren öffnen, daß wir hören können wie Jünger. Er kann tröstende Worte auf unsere  Lippen legen, daß auch wir mit den Müden reden können zur rechten Zeit.

 

Darum: Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserm Herrn.

 

 




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