Lesung:
Johannes 12, 12 - 19
Liebe
Gemeinde,
im heutigen
Predigttext sagt ein Mensch merkwürdige Dinge über sich selbst. Wir wissen
nicht, wer er ist. Wir kennen seinen Namen nicht. Aber einiges über ihn hören
wir in Textabschnitten, die im zweiten Teil des Jesajabuches (Jesaja 40 – 55)
verstreut sind: man nennt sie die Gottesknechtslieder, und ihn selbst den
Knecht Gottes.
Was für ein
merkwürdiger Titel: Knecht Gottes – also einer, der ganz und gar im Gehorsam
gegen Gott redet und handelt. Wer mag er sein, dieser Knecht Gottes?
Er sagt im
heutigen Predigttext, in Jesaja 50 V 4 - 9 dies von sich:
Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger
haben, daß ich wisse, mit den Müden zu reden zu rechter Zeit. Alle Morgen weckt
er mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören.
Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht
ungehorsam und weiche nicht zurück.
Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht
zuschanden. Darum hab ich mein
Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, daß ich
nicht zuschanden werde.
Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir
rechten? Laßt uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme
her zu mir!
Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen?
Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.
Ein
rätselhafter Mensch. Wir hören von ihm: Er ist geprügelt worden, vielleicht mit
einem Stock, oder einer Geißel – und hat seinen Rücken freiwillig den Schlägern
dargeboten. Er hat sich ins Gesicht schlagen lassen, er ist angespuckt worden.
Er hat sein Antlitz nicht davor abzuwenden gesucht, hat das geschehen lassen,
hat denen, die ihm das antaten, ins Gesicht gesehen. Und – merkwürdig - was er sagt, klingt nicht leidend, schon
gar nicht wehleidig. Es klingt im Gegenteil überraschend selbstbewußt. Er wird
geohrfeigt und bespuckt und sagt: „Ich habe mein Angesicht hart gemacht wie
einen Kieselstein, denn ich weiß, daß ich nicht zuschanden werde“. Ja, er
fordert seine Feinde und Folterer heraus und sagt: Wollt ihr mit mir rechten?
Dann laßt uns zusammen vor Gericht treten, da wollen wir sehen, wer Recht
bekommt. Das klingt, als sei er seiner selbst ganz gewiß. Dieser Mensch ist
ohne Menschenfurcht – und darin, auch darin, ganz anders als wir.
2
Nicht wahr,
wir überlegen doch bei fast allem, was wir sagen oder tun: „Was denken die
anderen?“ Wir kennen auch die Wehleidigkeit. Uns geht es eigentlich immer
ein bißchen schlecht. Die andern sind
immer ein bißchen besser dran als wir. Ist es nicht so, daß wir im Grunde
ständig um unsere Sorgen kreisen?
I
Aber bei
diesem Knecht Gottes ist das ganz anders, und wir fragen ihn: Woher kommt denn
deine Ruhe, deine Gelassenheit, dein Selbstbewußtsein mitten in Leid und
Verhöhnung, mitten in all dem Unrecht, das dir angetan wird?
Und er
antwortet: „Gott der Herr hat mir eine
Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, daß ich wisse, mit den Müden zu reden zur
rechten Zeit. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören“.“
Zwei unserer
sog. Sinnesorgane nennt er, die Zunge und das Ohr, das Reden und das Hören.
Zwei Sinnesorgane, die – wie die anderen allerdings auch – über die Maßen
wundervoll und geheimnisvoll sind (wie ich übrigens im Laufe der Jahre
überhaupt immer mehr ins Staunen gerate über all das Wundervolle, Rätselhafte
und Geheimnisvolle, das zu unserem menschlichen Leben und zur Schöpfung
gehört).
Die Zunge! Wir
bewegen sie zusammen mit den Lippen, bringen durch sie die Luft vor uns in
Schwingungen - und wir bewirken
Verstehen beim anderen Menschen! Aber
noch viel mehr: Wir lösen Gefühle, Empfindungen aus, wir können mit ihr
menschliches Leben vergiften, tief verletzen und ganz zerstören, aber auch Freudentränen, Glück und Dankbarkeit
auslösen...
Das Ohr: Es kann neugierig oder mißtrauisch auf Informationen aussein, um sie dann als Klatsch und Tratsch unter die Leute zu bringen. Es kann aber auch hellhörig sein für verborgene Empfindungen bei anderen Menschen. Es kann heraushören, wenn einer verängstigt ist oder müde...
Wie kann das
Ohr solch eine Feinfühligkeit gewinnen?
Der Gottesknecht sagt: „Alle
Morgen weckt Gott mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören.“
Gott erweckt
täglich neu bei ihm die Gabe, daß er hören kann, wie Jünger auf ihren geliebten
Lehrmeister. Und Gott gibt ihm einen Auftrag.
Und dieser Auftrag lautet: "Mit den Müden zu reden zur rechten
Zeit".
Mit den Müden
reden – zur rechten Zeit.
Die Müden: Das
waren damals die Landsleute dieses Knechtes. Wir wissen: Sie waren
Heimatvertriebene, Deportierte, Verschleppte. In Babylon müssen sie
Sklavenarbeit
verrichten. Jerusalem mitsamt dem Tempel war in Schutt und Asche gelegt worden,
die kostbaren Tempelgeräte waren geraubt und entweiht worden, sie wurden für
Freß- und Trinkgelage mißbraucht. Gott selbst war den nach Babylon
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Deportierten
dunkel geworden, er hatte sie offenbar verlassen – und diese Verlassenheit
wollte kein Ende nehmen. „Müde“ sind sie, glaubensmüde.
II
Ob eine oder
einer von Ihnen so etwas auch kennt?
Solch eine
Müdigkeit kann einen Menschen schon mal wie aus heiterem Himmel überfallen, sie
kann Menschen lange festhalten – nur, sie zeigen es nicht. Man muß ja nach
außen hin immer flott, souverän, „gut drauf“ sein. Wo darf denn einer schon mal
aussprechen und zeigen, daß er müde
ist? Wo darf er aussprechen, daß er nicht mehr weiterweiß, nicht mehr
weiterkann, daß alle Kräfte aus seiner Seele weggegangen sind, daß er keine
Ziele mehr kennt, für die es sich zu leben lohnt...
Etwa dann,
wenn einer den geliebten Menschen verloren hat, das vielleicht Allerschlimmste
im Leben überhaupt.
Oder: Es gibt
Menschen - ich höre das immer öfter in unserer Gemeinde, in der ja viele in wirtschaftlichen Bereichen
tätig sind - denen sagt und zeigt man inzwischen mit Mitte Vierzig, daß sie
nicht mehr gefragt sind, daß sie zu alt sind, daß sie, wie das scheußliche Wort
lautet, „freigesetzt“ werden...
Man wird müde,
man ist – durch eigene oder fremde Schuld -
abgehängt, abgekoppelt vom vollen Leben, und oft dann auch vom Glauben,
den man
vielleicht
früher einmal hatte – und will und kann auch nicht mehr beten.
Glaubensmüdigkeit,
Hoffnungsmüdigkeit.
Der Knecht
Gottes sagt von sich: Ich bin für die Müden da! Mein Auftrag, meine
Lebensaufgabe ist, auf sie zu hören und mit ihnen zu reden – zur rechten Zeit!
Es gibt also
von Gott her eine Seelsorge für die Müden. Dieser Knecht hier ist Gottes
Beauftragter in einer Welt, in der die Müden nicht hoch im Kurs stehen. Denn
wir alle halten es doch eher mit den Starken, Gutaussehenden, Dynamischen und
möchten auch selbst gern auf die Sonnenseite des Lebens gehören mit Ansehen,
Geld, Vitalität und sonstigen Vorzügen. Aber Gott will bei denen sein, die im
Schatten stehen.
Die Wirtschaft
kann keine „Müden“ gebrauchen. Aber bei Gott stehen sie hoch im Kurs. Gott
versteht sie offenbar, er weiß , wie ihnen zumute ist. Darum schickt er seine
Knechte zu ihnen, den Knecht Gottes, von dem wir hier hören – und andere, viele
andere, bekannte und unbekannte.
III
An dreierlei
Kennzeichen kann man sie erkennen.
4
Einmal: Gottes
Kraft ist in ihnen mächtig. Gott selbst handelt an ihnen: Er macht sie fähig
zum Hören und er gibt ihnen die guten, heilenden, tröstenden Worte auf die
Lippen - und das Gespür, wann es die rechte Zeit ist sie auszusprechen!
Das zweite:
Diese Knechte haben offenbar Widerstände, Anfeindungen zu erwarten - so wie der Knecht hier, aber auch viele
andere Seelsorger im Auftrag Gottes, bekannte wie Martin Luther King, Gertrude
Stein, Bischof Romero, Mutter Teresa,
Bischof
Scharf... aber genauso die unzähligen unbekannten Gottesmägde und – knechte.
Und das
dritte: Das ist diese wunderbare innere Freiheit, ja – vielleicht muß man sagen
– dieser Glaubensstolz, dieses Wissen um die Nähe Gottes, dieses Bewußtsein,
sich ganz und gar auf Gott verlassen zu können, durch ihn geradezu
unverwundbar, unbesiegbar zu sein: „Gott
der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden...er ist nahe, der mich
gerecht spricht... wer will mich verdammen?“
IV
Aber nun
klingen für einige Kundige unter uns hier Worte an, die der Apostel Paulus in
Römer 8 jubelnd und überaus dankbar ausspricht: Wer will uns jetzt noch verdammen? Christus Jesus ist hier, den Gott für uns
alle dahingegeben hat, der nun zur Rechten Gottes ist und uns vertritt...durch
den Gott uns gerecht spricht.
Dieser
unbekannte, anonyme Knecht Gottes hat für uns Christen einen Namen bekommen,
den Namen dessen, der gesagt hat, und jetzt auch zu uns hier sagt:
„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch
erquicken“.
Jesus – der
Seelsorger an soviel müden, überbelasteten, hoffnungslosen Menschen! Jesus, von
dem wir gerade in den Passionsandachten wieder gehört haben, wie sie ihn
prügelten, ins Angesicht schlugen, ihn anspuckten...Von ihm sagt das letzte der
Gottesknechtslieder, das wir dann zu Karfreitag hören werden: „Er trug unsere Krankheit und nahm auf sich
unsere Schmerzen...Die Strafe liegt auf ihm, auf das wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“.
Jesus - der Knecht Gottes, der uns
in die Freiheit ruft. Jesus, die Freude in unserem Leide.
Er kann auch
uns die Ohren öffnen, daß wir hören können wie Jünger. Er kann tröstende Worte
auf unsere Lippen legen, daß auch wir
mit den Müden reden können zur rechten Zeit.
Darum: Der
Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus unserm Herrn.