Gottesdienst am 4. Advent, 23.12.2001

(Pfarrer Martin Quaas)

 

Lieder:

 

Es kommt ein Schiff, geladen...8

Nun jauchzet, all ihr Frommen, zu dieser Gnadenzeit...9

Wunderbarer Gnadenthron...38

Ach mache du mich Armen...10,4

 

Psalm: Lobgesang der Maria Lukas 1, 46-56 (Nr. 769)

Lesung: Philipper 4, 4-7

 

 

Der für diesen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht  im Prophetenbuch Jesaja, Kap. 52, die Verse 7-10. Der Prophet hat in visonärer Schau das von den Babyloniern schrecklich zerstörte Jerusalem vor Augen und sieht es doch ganz anders, er schreibt voller Jubel:

 

Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!

Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt.

Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.

Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, daß aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.

 

Liebe Gemeinde,

 

bei Martin Luther kann man immer wieder höchst einprägsame und dichte Formulierungen über den christlichen Glauben finden. Eine  dieser Formulierungen, die sich mir seit den Tagen meines Theologiestudiums eingprägt hat, lautet: Gottes Handeln unter uns Menschen ist meist verborgen unter dem Anschein des Gegenteils („sub contrario“).

 

Am tiefsten und wunderbarsten sehen wir das in den Ereignissen von Weihnachten und Karfreitag: In der Niedrigkeit zeigt Gott seine Hoheit. Indem er arm wird, macht er uns reich.Im Dienen äußert sich seine Herrschaft. In der scheinbaren Ohnmacht Jesu in der Krippe und am Kreuz sollen wir die Allmacht der Liebe Gottes erkennen.

 

Und das alles könnte dann doch auch für unser Leben gelten: Gerade da, wo wir uns ganz schwach und arm fühlen, gerade da kann und will die Fülle der Kraft Gottes durch uns wirken. Und umgekehrt: Wo wir in uns selbst reich und wohlhabend sind, da verläßt uns Gott und wir werden innerlich leer. Oder vielleicht auch: Gerade da, wo wir Gottes Härte und Unbarmherzigkeit zu spüren meinen – gerade da könnte Gottes Barmherzigkeit in besonderem Maße am Werk sein und Gutes, Heilsames für uns im Sinn haben. Und das alles heißt dann auch: Wo wir von Gottes Macht und Herrlichkeit nichts zu sehen meinen, gerade da läßt er sie uns sehen und ankündigen. So wie es hier der Prophet tut.

 

2

 

 

I

 

Was sind das für herrliche Worte voller Jubel und Freude, die er hier singt, was für herrliche Zusagen Gottes an sein Volk, die der Prophet ankündigen darf. Und unüberbietbar groß und umfassend die Aussage am Schluß: Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes!

 

Ja - aber das stimmt doch gar nicht! sind wir sofort versucht zu sagen: Damals nicht, als der Prophet verkündigte – und heute doch auch nicht. Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes?? Im Gegenteil: Wie sehr häufen sich die Unheilsmeldungen, so sehr, daß man es manchmal gar nicht mehr aushält.

 

Dieser Tage schrieb Wilhelm Goller, Direktor der Schule Talita Kumi in Beit Jala bei Bethlehem dies:

 

„Im deutschen Fernsehen erleben wir Vorweihnachtszeit. Dort sind die Straßen und Geschäfte festlich geschmückt und die Menschen, vor allem die Kinder und Jugendlichen, dürfen sich auf Weihnachten freuen. Hier in Beit Jala, ja selbst in Bethlehem – dem Geburtsort Jesu – deutet bisher nichts, überhaupt nichts darauf hin, daß bald Weihnachten ist.

 

Die diesjährige Weihnachtsgeschichte schrieb allerdings auch eine Muslimin aus unserem westlichen Nachbarort Husam, und es ist eine traurige Geschichte: Auch Rihab Nofal (30) wollte nämlich in Bethlehem ein Kind zur Welt bringen. Im Gegensatz zu Maria und Josef erreichte sie aber diesen Ort und das dort gelegene Caritas Baby Hospital nicht. Sie wurde auf dem Weg zum Krankenhaus in Bethlehem am Al-Khader Kontrollpunkt – rund 5oo m von unserer Schule entfernt – von israelischen Soldaten festgehalten und nicht durchgelassen, bis sie und das ungeborene Kind starben. Dies geschah am Freitag, dem 19. Oktober 2001.

 

Die Parallele zur Weihnachtsgeschichte läßt sich sogar fortsetzen. Zwar würden viele, viele Gäste dieses Jahr einen Platz zum Schlafen in den leer stehenden Hotels finden, aber viele Einheimische haben keine Herberge mehr; ihr Haus wurde zerbombt! Viele Familien leben notdürftig bei Verwandten. Über die Hälfte der Familien stehen ohne eigenes Einkommen da!“

 

Und dann nennt er die Namen von 13 im Oktober meist von israelischen Scharfschützen getöteten Menschen aus der Zivilbevölkerung, darunter etwa eine 39jährige Mutter von acht Kindern, ein taubstummer Vater von 5 Kindernn, ein siebzehnjähriger Abiturient...

 

Aber nun sagt auch der Prophet seine Worte in einer Situation, die in krassestem Gegensatz zu seinen Aussagen von der Herrlichkeit Gottes stand.

 

Das Volk Gottes in babylonischer Gefangenschaft. Versklavt, vertrieben, ganz am Ende.

 

 

3

 

Im 137. Psalm klagen sie so davon:

 

An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten,

wenn wir an Zion, unsere Heimat gedachten.

Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande.

Denn die uns gefangen hielten, befahlen uns zu singen und in unserem Weinen fröhlich zu tun: Singt uns  ein Lied von Zion!

Wie könnten wir des Herrn Lied singen in fremdem Land!

Vergesse ich dein, Jerusalem, so verdorre meine Rechte, meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht mehr gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein...!

 

Welche Trauer und welche Sehnsucht nach Jerusalem spricht in diesen Worten! Und mitten in diese Trauer hinein sagt der Prophet, der dort unter ihnen lebt, Worte von solch überschwänglichem Jubel!

 

II

 

Er hat etwas gesehen. Gott hat ihn etwas sehen lassen. Und was er sah, teilt er seinen Zuhörern, auch uns, mit.

 

Seht nur! sagt er. Seht den Zug der Heimkehrer nach Jerusalem! Durch die riesige arabische Wüste ziehen sie hindurch – und Jahwe, unser Gott, zieht ihnen voran. Und: Seht die Freudenboten! Sie eilen dem Zug der Heimkehrer voraus! Sie rufen Jerusalem zu: Unser Gott kommt! Er kommt mit Frieden! Und die Wächter dort auf den zerborstenen, rauchgeschwärzten Mauern Jerusalems, die Wächter gegen die Plünderer: sie nehmen die Freuden- und Friedensbotschaft auf und dann –weil ja kaum Menschen da sind, die die Heimkehrenden begrüßen könnten – dann werden die Trümmer Jerusalems zum Jubeln aufgerufen: Seid fröhlich und jubelt, ihr Trümmer Jerusalems! ruft der Prophet.

 

Was für ein grandioses Bild: Die Trümmer sollen jubeln, weil es mit ihrem Trümmerdasein zuendegeht, denn Jerusalem wird gebaut werden, wird wieder eine hochgebaute Stadt werden, alles wird heil und froh werden...Ob der Prophet schon das himmlische Jerusalem  (Offb. 21) sah? 

 

Und dies, was Jahwe, der Gott Israels, an Jerusalem und seinem Volk tun wird – dies ist nicht etwas auf dieses Volk und auf diesen Erdenwinkel Beschränktes, sondern aller Welt Enden werden es sehen, es wird Heil bedeuten für die ganze Welt bis in die entlegendsten Enden, bis hin nach Feuerland, das Horn von Afrika, den Hindukusch, die Schluchten und Höhlen Afghanistans.

 

III

 

Ja – wie sollen wir das alles begreifen! Macht der Prophet sich und seinem Volk etwas vor, weil er es in dieser trost- und hoffnungslosen Lage einfach nicht mehr aushält? Teilt er sich und dem Volk Opium mit?

 

 

4

 

 

Nein, das ist ganz auszuschließen. Denn er sagt nicht etwas, was er sich ausgedacht hat, sondern etwas, das für ihn  selber völlig unerwartet, völlig überraschend

gekommen ist: Gott selbst hat ihm Augen und Ohren weit geöffnet, Gott selbst hat ihn sehen lassen, was er vorhatte. Also verkündigt er etwas noch Ausstehendes, noch Zukünftiges?

 

Teils ja. Und er spricht doch zugleich von etwas, das schon Wirklichkeit ist.

 

Denn er sagt ja: Gott hat sein Volk getröstet. Er hat Jerusalem schon erlöst. Die Boten verkünden schon den Frieden. Aller Welt Enden sehen schon das Heil Gottes.

 

Der Prophet sieht offenbar anders als wir. Er sieht mit von Gottes Geist erleuchteten Augen. Um es wiederum mit einer Formulierung Luthers zu sagen: Ein Christ sieht da schon Wirklichkeit, wo noch keiner sie sieht, und da keine Wirklichkeit mehr, wo jeder sie noch sieht.

 

 

IV

 

So wie es auch Maria sah, als sie sang:  Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.

Die Hungrigen füllt er mit Gutem und läßt die Reichen leer....

 

Wir sehen das anders, wir sehen immer noch die Gewaltigen oben. Wir sehen, daß die „Gewaltigen“ – als seien wir in der Steinzeit stehengeblieben – nach wie vor kaum anderes kennen als Gewaltpolitik. Wir sehen sie oben und die Niedrigen unten, die Hungrigen hungrig und die Reichen angefüllt mit Überfluß bis zum Überdruß.

 

Oder könnten wir doch schon anders sehen? Die Gewaltigen in ihrer Ohnmacht, ihrer Erbärmlichkeit und Hilfsbedürftigkeit? Die Hungrigen schon fröhlich an Tischen mit uns, den  konsummäßig reichen Völkern, gemeinsam tafelnd? Und dann uns dementsprechend verhaltend? 

 

Ich finde, solches Sehen zu üben, ist eine gute Übung gerade für die Zeit vor Weihnachten. Also meine Augen damit zu verschonen, daß sie sich überfressen an zuviel Geflimmere und dadurch völlig blind werden für Gott.

 

Stattdessen über dem Hören auf ihn mir wenigstens ein bißchen neues Sehen schenken zu lassen. So bereiten wir uns gut auf die Weihnachtsbotschaft vor.

 

Denn da hört alle Welt: Im Kind in der Krippe leuchtet die Herrlichkeit Gottes auf.

 

Der ewigreiche Gott wird arm, um uns durch seine Armut reich zu machen.

 

Er wird ein Knecht und ich ein Herr.

 

In Stall und Krippe liegt es, das Heil Gottes für aller Welt Enden.

 

5

 

 

Der Friede ist ein Mensch. In diesem Kind, diesem Verkündiger des Reiches Gottes in Wort und Tat, diesem Menschen am Kreuz ist er zu finden. Von ihm, der die Dornenkrone trägt, sagt es der Prophet: Dein Gott ist König!

 

Was bedeutet er für die Menschen in Beit Jala? Als Antwort schließe ich mit den Gebeten zweier Schülerinnen der Schule Talita Kumi:

 

„Lieber Gott, du bist uns näher als unser schneller Atem und klopfendes Herz. Du siehst unsere traurigen Seelen und zerbrochenen Herzen. Du siehst unsere tränenden Augen und zitternden Beine.

 

Du kennst unsere Ängste, unser Leid und Dulden, unsere Unterdrückung und Mißhandlung.

 

Gott, du bist stärker als jede Gefahr, als jede Depression und hast uns immer lieb. So tröste die Familien aller Verstorbenen und es leuchte dein Licht in ihren Augen...“

 

So betete Klara J. Schihadeh, und Patricia Al Teet, Klasse 10 b, schrieb:

 

Lieber Gott, ich danke dir für mein Leben, für Eltern und Freunde, für Essen, Kleidung und alles, was du, Herr, uns gegeben hast.

 

Aber ich wünsche mir sehr, daß das, was du uns gegeben hast, auch all die anderen Kinder bekommen werden, weil nicht jedes palästinensische Kind dies hat.

 

Gott, gib uns Frieden, ein Leben ohne Krieg und Schießerei. Gib auch allen Kindern die Kraft, daß sie diese Schwierigkeiten aushalten können...Ich bin sicher, daß du immer nah bei mir bist, und auch bei meiner Familie, meinen Freunden und allen (!) Menschen auf dieser Welt.  Ich danke dir für alles. Im Namen unseres Herrn Jesus Christrus, Amen.

 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre auch unsere Herzen und Sinne in ihm. Amen.

 

 

 

 

Fürbitten:

 

Wir beten mit Worten eines Schülers der Klasse 10:

 

Herr, schenke uns Geduld und Frieden.

 

Laß die Feinde nicht über uns herfallen. Weide uns auf einer grünen friedlichen Aue, denn du bist unser guter Hirte!

 

Erbarme dich um deines Namens willen, denn wir sind in großer Not. Unser Leben ist von Trauer und Seufzern umhüllt. Laß dieses unerträgliche Leben für uns ein wenig

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erträglicher werden, vielleicht noch ein bißchen lebenswerter, denn du bist der Allmächtige, Schöpfer von Himmel und Erde, Herr über Leben und Tod, unser Retter und Erlöser!

 

Gib uns die Kraft, o Herr, unter Lob deines Namens die Schwierigkeiten zu überwinden, die unser Leben erschweren. Laß die Vernunft durch die Kraft deines Wortes über die ganze Welt walten, damit die Kanonen verstummen, die „Apatschis“ (Hubschrauber) nicht mehr in den Himmel steigen, daß Liebe den Haß besiegt,

Toleranz die Gewaltanwendung, der gerechte und dauerhafte Friede den Krieg und Terror.

 

Laß die Menschen nachdenklicher und humaner werden, daß keiner seinen Mitmenschen brutal unterdrückt oder demütigt. Sorge für eine gerechtere Verteilung deiner Gaben auf dieser Welt, o Herr, daß keiner mehr friert, hungert oder dürstet, außer nach  deinem Wort und deiner Gerechtigkeit.

 

Wir bitten dich, denen beizustehen, die in dieser schweren Zeit Familienangehörige, Hab und Gut verloren haben. Führe die Regierungen aus der Ausweglosigkeit, aus diesem Teufelskreis der Schläge und Vergeltungsschläge! Zeig ihnen, o Herr, deinen Weg der Gerechtigkeit und des Friedens.

 

Dies alles bitten wir im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Amen. 

 




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