Predigt über Jesaja 63,15 bis 64,7 i. A., 5.12.99, 2. Advent

 

Liebe Gemeinde,

 

der Psalmbeter betet gegen den scheinbar verschlossenen Himmel an, er ruft und schreit, Gott möge seinen verschlossenen Himmel wenigstens einen Spaltbreit öffnen, er möge doch wenigstens eine Spur vom Leuchten seines Angesichtes sehen lassen. Er verzweifelt an der tiefen Verborgenheit Gottes und vertraut ihm doch, ja er äußert seine Liebe zu ihm.

 

So haben immer wieder Beterinnen und Beter Gottes Verborgenheit erfahren und dennoch in Vertrauen und Liebe zu ihm gerufen.

 

Ein Beispiel, ein Gebet aus unserer Zeit. Ein langes inniges, intensives Gespräch mit Gott. Man fand es, in einer Flasche versteckt, nach dem Krieg in einem verbrannten Haus im Warschauer Ghetto. In den letzten Stunden seines Lebens hat es ein Jude aufgeschrieben, dem kurz zuvor dort im Ghetto seine Frau und seine Kinder umgebracht worden waren.

 

Im letzten Teil dieses langen Gebetes zu Gott erzählt dieser Jude Gott eine Geschichte. Er sagt: Hör, Du, mein Rabbi pflegte  mir immer die Begebenheit von einem Juden zu erzählen, der mit Weib und Kind der spanischen Inquisition entkommen war und auf seinem kleinen Boot übers stürmische Meer zu einer kleinen Insel verschlagen wurde. Da kam ein Blitz und erschlug die Frau. Da kam ein Sturmwind und wirbelte sein Kind ins Meer. Allein, elend, nackt und barfuß, vom Sturm geschüttelt, von Donner und Blitzen erschreckt, die Haare zerzaust und die Hände zu Gott erhoben, ist dieser Jude seinen Weg weitergegangen auf der wüsten Felseninsel, hat sich an Gott gewandt und dies zu ihm gesagt: Gott Israels, ich bin hierher entkommen, um dir ungestört dienen zu können, deine Gebote zu tun und deinen Namen zu heiligen Du aber tust alles, daß ich an dich nicht glauben soll. Wenn es dir aber scheinen sollte, daß es dir gelingen wird, mich mit deinen Drangsalen vom richtigen Weg abzubringen, melde ich dir, mein Gott und Gott meiner Väter: daß dir dies alles nichts nützen wird. Magst du mich auch schlagen, magst du mir auch wegnehmen das Teuerste und Beste, das ich hab‘ auf dieser Welt, magst du mich auch zu Tode peinigen – ich werde immer an dich glauben. Ich werde immer dich liebhaben, immer, dich allein, dir zum Trotz!

 

Und – so schließt der Jude aus dem Warschauer Ghetto – und das sind auch meine letzten Worte an dich, du mein zorniger Gott, der du dein Angesicht verhüllt und dich verborgen hast. Du hast alles getan, daß ich an dir irre werde, daß ich an dich nicht glaube. Ich sterbe aber, wie ich gelebt habe: In innigem Glauben an dich. Und er schließt: Gelobt sei, der bald sein Antlitz wieder vor der Welt enthüllen wird und der mit seiner mächtigen Stimme ihre Grundfesten erschüttert! Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.“

 

Soweit dieser Text. So wie aus dem Klagepsalm, unserm Predigttext, trotz allem Liebe zu Gott spricht – so auch aus diesen Gebetsworten. Und so wie dieser Jude  aus dem Warschauer Ghetto von Gott erwartet hat, daß er bald gewaltig und alles erschütternd kommen werde – so auch der Beter unseres Psalms: „Ach daß du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer

 

2

 

Wasser zum Sieden bringt... und die Völker vor dir erzittern, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten...

 

Erwarten wir eigentlich, daß Gott so kommen kann, so gewaltig, Schrecken und Entsetzen auslösend?

 

Ich meine, ganz gewiß kann Gott so kommen. Er könnte unseren Globus wie ein Stäubchen wegpusten. Und, wenn Gott hinter allem Geschehen steht, dann müssen wir doch sagen: Auch furchtbare Erdbeben, Vulkanausbrüche, Naturkatastrophen geschehen doch nicht ohne seinen Willen – und auch im persönlichen Leben von uns Menschen läßt er doch Dinge geschehen, die  nur Schrecken und Entsetzen auslösen können – so wie es die Juden im Warschauer Ghetto erfuhren, aber auch Menschen, die vielleicht jetzt unter uns sind.

 

Und der Psalmbeter spricht ja auch diesen ungeheuren Gedanken aus: Du, Gott, selbst läßt uns abirren von deinen Geboten, du verstockst und verhärtest unser Herz, daß wir dich nicht fürchten. Gott selbst also kann das tun und bewirken: Unser Leben verkommen lassen und verlorengehen lassen in Materialismus, Habgier, Herzenskälte und Seelenlosigkeit.

 

Aber es wäre alles ganz falsch, wenn uns diese tiefe Wahrheit nun zum Fatalismus verführen würde, also zu dem Denken: Es geschieht eben, was uns bestimmt ist, wir können da nichts machen. Sondern im Gegenteil, diese tiefe Wahrheit führt uns gerade zur realistischen Erkenntnis unserer selbst, so wie der Psalmbeter es in diesen unvergänglichen Worten ausspricht: „Aber nun sind wir alle wie die Unreinen und unsere Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid. Wir sind alle verwelkt wie die Blätter und unsere Sünden tragen uns davon wie der Wind“. Wir erkennen nun, daß wir ohne ihn nichts sind, daß wir ohne ihn nichts sind als welke Blätter, die der Wind verweht. Und wir bitten ihn nun hoffentlich ganz demütig: Aber du, Gott, bist doch unser Vater, „unser Erlöser“, das ist dein Name. Kehre dich doch wieder zu uns...komm doch, himmlischer Vater, mit deinem Geist der Kraft und der Liebe und der Einsicht zu uns, zu unserem Land, komm zu uns, die auch dieses Jahr wieder in diesem lauten Rummel verloren zu gehen drohen.

 

Und so, liebe Gemeinde, in dieser demütigen und sehnsüchtigen Haltung, so werden wir dann bereit für das Wunder, das wir dann – zu Weihnachten – aber auch dann aus tiefstem und vollem Herzen feiern sollen: Für das Wunder der Niederkunft Gottes. Aus seiner Himmelswelt und seiner Unendlichkeit kommt er heraus, kommt  herunter, zeigt sich in einem Judenkind. Da ist unser Gott, der „Krippenherr und Windelfürst“, wie Luther ihn nennt.

 

Wo ist nun dein Eifer und deine große Macht? hatte der Psalmbeter gefragt. Ja, da unten sind sie nun, seine eifrige Liebe, seine gewaltige Macht. Gott hat das Gebet erhört: „Ach, daß du den Himmel zerrissest und kämest herab...“, er ist  mit einer Art Gewalt gekommen, die in der Tat Berge zum Fließen und Steine zum Schmelzen bringen kann, er ist mit der bezwingenden Gewalt gekommen, die in diesem Kind von Bethlehem verborgen ist, da zeigt er eine Liebe, die bei uns unten sein will, die bei uns bleiben, mit uns gehen, mit uns leiden will. Von ihm singen wir nun: „Nichts nichts hat dich getrieben... Amen.




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