Gottesdienst am 17. Sonntag nach Trinitatis, 30. September 2007 im Weiglehaus, Essen


Lieder:


Du meine Seele, singe...EKG 197, 1.5.6

Du höchstes Licht, ewiger Schein...337, 1-5

So nimm denn meine Hände...529


Lesung: Römer 10, 9 - 17


Liebe Gemeinde!


"Ich bin gekommen", sagt Jesus im Johannesevangelium, "damit die Menschen das Leben haben und es in Fülle haben" . Leben in Fülle hat er der ganzen Menschheit zu geben.


Was brauchen wir zu solch einem Leben? Zuerst und vor allem: Luft zum Atmen - und Gottes Atem, den Heiligen Geist! Von Beidem spricht Jesus in Johannes 3, in der nächtlichen Zusammenkunft mit Nikodemus. Weiter: Wasser! In Johannes 4 hören wir von der samaritanischen Frau, die Jesus Wasser aus dem Brunnen schöpft und der er dann sagt - und später in Johannes 7 (V37-39) auch Anderen: Ich bin das lebendige Wasser, das Wasser des Lebens. Dann: Wir brauchen Brot! Und in Johannes 6 lesen wir: Jesus sorgt dafür, dass hungernde Menschen zu essen bekommen und sagt ihnen dann auch: Ich stille auch all euren geistigen und geistlichen Hunger, ich bin das Brot des Lebens, das wahrhaftige Brot, vom Himmel gekommen, das wir im Abendmahl empfangen.


Luft, Wasser, Brot - im materiellen wie geistlichen Sinn...Es fehlt noch etwas Entscheidendes: Licht! Stellen wir uns Gefangene vor, in völlig lichtlosen unterirdischen Verliesen hockend - oder, wie das ein Pfarrer Paul Schneider 1940 im KZ Buchenwald aushalten musste: In Dunkelzellen, in die nie ein Lichtstrahl dringt: In dieser absoluten Nachtschwärze verlieren die Gefangenen den Zeitsinn, verlieren den Orientierungs- und den Gleichgewichtssinn; verlieren allmählich den Verstand.


Der Blindgeborene, von dem wir im Johannesevangelium Kapitel 9 hören, ist da noch besser dran: Immerhin kann er das belebende und wärmende Sonnenlicht auf seiner Haut spüren.


Manche von Euch erinnern sich vielleicht: Diese Blindenheilung, in Johannes 9, Vers 1-7 erzählt, war der Text, über den ich Ende Juli hier predigte. Und etwa um diese Zeit rief

Rolf Zwick bei mir an und fragte, ob ich den Gottesdienst am 30. September übernehmen könne. Ich sagte natürlich gern zu, sah nach, was für ein Text dran wäre und - staunte: Es war wieder Johannes 9, diesmal die letzten Verse. Gott wollte offenbar, dass ich mich intensiv mit dieser Blindenheilung beschäftige, er wollte mich etwas sehen lassen. Denn,

das ist ja so: Bei der Predigtvorbereitung kann man gar nicht anders als zuerst zu fragen: Was sagt Gott mir, mir ganz persönlich in diesem Text?


Ich fange also nochmal mit den ersten Versen von Johannes 9 an, erzähle dann nach, was Johannes dann berichtet und münde in den heutigen Predigttext am Ende des Kapitels.


1. Punkt: Die Heilung


"Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war...". Und die Jünger fragen Jesus und drücken darin den gängigen Volksglauben aus: Wer hat eigentlich gesündigt, dass er so gestraft ist, er selbst oder seine Eltern? Sie denken nach Schema F: Gott ist gerecht, und wenn ein Mensch einen körperlichen Defekt hat, dann muss

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das Strafe für eine Schuld sein - wenn nicht eigene Schuld (er ist ja schon blind geboren), dann Schuld der Eltern. So legt man sich die Dinge zurecht. Wir kennen das. Wenn's einem schlecht geht: "Irgendwie muss der das verdient haben", denken wir. Oder der Betroffene selbst: Immer wieder kann der aufwühlende Gedanke kommen: Womit habe ich das verdient?! Ein Hadern mit Gott.


Aber Jesus rückt den Jüngern den Kopf zurecht: Nichts da mit Schuld oder Strafe. Im Gegenteil! An diesem Behinderten soll Gottes Wirken in besonderer Weise sichtbar werden! Und dann wird Jesus dem Blinden zum Arzt, zum Heiler, er streicht das Heilmittel Erde mit Speichel vermischt auf seine Augen, und er sagt zu ihm: Geh, und wasche dir die Augen im Teich Siloah. Und der hört - und folgt Jesu Worten. Er hat also Vertrauen zu ihm. Das ist entscheidend. Denn von Jesus, von Gott erfahren wir überhaupt erst etwas, wenn wir in der Haltung des Vertrauens leben. Wer skeptisch-kritisch-distanziert bleibt, wird von Gott nichts erkennen. Sondern nur der, der sich Gott und seinem Wort öffnet, sich ihm anvertraut, sich ihm hingibt.


Und nun könnte man denken: Mit dieser Heilung - die an einem Sabbat geschah - ist diese Wundergeschichte an ihr Ziel gelangt. Und bei vielen Wundern in den Evangelien ist das ja auch so: Da wird ein Mensch geheilt und dann heisst es oft noch: Er pries Gott; oder: Alles Volk, das das sah, lobte Gott...


Hier aber fängt es nach der Heilung erst so richtig an!


Darum nun der 2. Punkt: Fortschritte im Glauben


Das will ich nun nur ganz knapp nacherzählen; es ist lohnend, es zu Hause langsam und bedacht zu lesen.


Das Wundergeschehen zieht Kreise: Wir hören von neugierigen Reaktionen der Bekannten und Nachbarn, von überheblichen Urteilen der Pharisäer, die Jesu Tun in ihr Gottesbild einpassen wollen und geradezu inquisitorisch-rechthaberische Fragen stellen; von den Eltern, die sich eher ängstlich heraushalten; wir hören von Leuten, die solch eine Wunderheilung für schlicht unmöglich halten, weil "nicht sein kann, was nicht sein darf". Und über all dem wächst der Glaube des Geheilten: Zuerst nennt er Jesus schlicht einen Menschen (V11); dann immerhin einen Propheten (V17) und dann wird ihm vorgeworfen, ein Jünger Jesu (V28) zu sein; es wächst nämlich zugleich auch die Feindseligkeit ihm gegenüber, so dass er schliesslich aus der Synagoge ausgestossen wird: Das Ganze ist auch ein Abbild der Situation, in der der Evangelist Johannes sein Evangelium schreibt: Er lebte mitten in einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen zwischen Juden und Judenchristen, bis hin zum gegenseitigen Ausschluss.


Und dann - Höhepunkt und Ziel von allem - tritt der selbst wieder auf den Plan, der all das ausgelöst hat. Und davon handelt nun der heutige Predigttext. Ich lese zunächst die Verse 35 - 38


Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestossen hatten. Und als er ihn fand, fragte er

ihn: Glaubst du an den Menschensohn?

Er antwortete und sprach: Herr, wer ist's? dass ich an ihn glaube.

Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's.

Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.


Jesus hat ihn gesehen und gefunden und er findet nun seinerseits Jesus. Ganz ähnlich

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wie bei Thomas wird sein Glaube nun zu einem ganz persönlichen und lebendigen Bekenntnis: Herr, ich glaube! Er betet ihn an, d.h. er erkennt: In dir kommt der unfassliche

und unergründliche Gott selbst mir ganz nahe. Wie gut und welch ein schönes Geschenk, wenn es zu solch einer unmittelbaren lebendigen Begegnung und Beziehung mit Jesus auch bei uns kommt - dann kommt unser Glaube ans Ziel, und wir erkennen und finden dann das Heil, das Gott uns durch Jesus schenkt.


Dritter und Hauptpunkt also: Das Heil durch Sündenvergebung


Jesus fügt an das Zwiegepräch nun noch diese Worte an (V 39 - 41):


Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.

Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind?

Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.


Nicht wahr, das sind schwere, in jeder Hinsicht schwere, gewichtige Worte! Ich denke, es geht hier vor allem um die Übertretung des Zweiten Gebots: Du sollst dir kein Bild von Gott machen. Gemeint ist ein Bild mit einem Rahmen darum; gemeint ist eine Glaubenssicherheit oder vermeintliche Rechtgläubigkeit, die genau weiss: So und so ist Gott; dies und dies ist sein Wille. Man ordnet Gott in seine Denkschablonen ein. Man hält sich selbst für sehend - und ist doch blind - blind nämlich für den lebendigen Gott, für unerwartete Begegnungen mit ihm, für seine Geschenke, auch seine Warnungen und Rufe zur Umkehr.


Das war offenbar die tödliche Gefahr in der Frömmigkeit der Pharisäer, das ist die Gefahr immer wieder bei uns Christen: Wir haben unser Bild von Gott. Das ist die Gefahr bei jeder Dogmatik oder gar einem kirchlichen Lehramt, das ist die Haltung auch mancher Theologen, die ganze Bücher schreiben unter der Voraussetzung, dass Gott natürlich nur das tun kann, was sie für möglich halten. Auferstehung ist nach Menschenmasstäben nicht möglich, also kann Gott es nicht getan haben - wo sie doch in der Bibel lesen könnten: Bei Gott ist kein Ding unmöglich (Luk.1,37;1.Mose 18,14 u.ö.) Oder man betet statt den Heiligen Geist den Zeitgeist an; nach dem Motto: Manches, was die Bibel sagt, das kann man dem "heutigen", dem "modernen", dem "aufgeklärten" Menschen natürlich nicht mehr zumuten.


Kürzlich ist wieder so ein Buch erschienen, das von "notwendigen Abschieden" schreibt: Abschied von der Vorstellung des Todes Jesu als Sühnopfer; Abschied von der Vorstellung, das Christentum sei keine Religion wie andere auch... undsoweiter. Da kann man nur sagen: "Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer" (Matth.16,6). Du sollst dir und Anderen kein Bild machen - weder von Gott, noch von Menschen.


Denn das tun wir ja auch so gern: Wir machen uns ein Bild vom Andern, mit einem festen Rahmen drumherum: So und so ist der...Und dann kann dieser Mitmensch nicht mehr aus

seinem Rahmen heraus. Ich habe dazu kürzlich einen bedenkenswerten Satz von Kant

gelesen: Ich habe immer gefunden, schreibt er, dass die sogenannten schlechten Leute gewinnen, wenn man sie näher kennenlernt, und dass die guten verlieren.


Wer sich selbst für sehend hält: Blind wird er vor allem für das, was Gott uns durch Jesus schenkt. Denn mit unseren natürlichen Augen sehen wir doch da nur einen schlichten Wanderprediger, der zwar Wunder getan und Wundervolles gesagt hat - aber am Ende

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eben doch scheiterte, einen grausamen Foltertod starb. Soviel sieht der, der sich selbst für sehend hält. In Wirklichkeit, sagt Jesus hier, ist er blind und bleibt in der Sünde, weil er nicht

sieht, was allein der Glaube erkennt: Die erlösende Kraft des Kreuzestodes Jesu, das Wunder der Sündenvergebung. So wie es zum Beispiel einem Zinzendorf wie Schuppen von den Augen gefallen ist: Er stand in Düsseldorf vor einem Bildnis des Gekreuzigten und - mit einemmal hörte er ihn sagen: "Das tat ich für dich! - Was tust du für mich?" Und dann - tief erschüttert uind bewegt - begann er das so segensreiche Werk der Herrnhuter Brüdergemeine, der wir ja auch das Losungsbüchlein verdanken.


"Das tat ich für dich"! Hier hänge ich auch um deinetwillen! Das kann nur der sog. "blinde" Glaube erkennen. Er sieht: Ja - ich bin auch so wie all die an diesem Leiden und Tod Beteiligten; hier ist auch mein Wesen, meine Schuld zu erkennen - und Er, er erbittet und erwirbt auch für mich die Vergebung Gottes - und nun habe ich ganz unverdient einen gnädigen Gott, der mich, wenn ich meine Schuld einsehe, nicht mehr verurteilt - im irdischen Leben nicht, und auch nicht, wenn ich einmal mit meinem ganzen Leben vor Gottes Thron stehe und wenn dann alles wieder ans Licht kommt - auch die verborgensten Gedanken und Gefühle. Der "blinde Glaube" erkennt: Da, wo ich nur Ende,Tod und Niederlage sehe, da fängt Gott erst richtig an: Er erfüllt den toten Gekreuzigten mit seinem eigenen göttlichen Leben und macht ihn zum Herrn und Richter über alle sichtbaren und unsichtbaren Machthaber. Der blinde Glaube vertraut: Gott, anscheinend unendlich fern, unerkennbar und unergründlich: Er ist mir in Wirklichkeit ganz nahe, ich bin ihm sehr wichtig, ich bin ihm unendlich lieb und wert - und der oder die neben mir ganz genauso!


Nicht wahr: Offen-sichtlich ist das alles nicht. Unser Glaube ist ein Glaube gegen den Augenschein. "Er sieht da Wirklichkeit", sagt Luther, "wo keiner sie sieht, und da keine, wo jeder sie sieht". Völlig gegen allen Augenschein singen wir trotzig und zuversichtlich: "Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret". Wir singen es in dem Vertrauen: Jetzt sehen wir's noch nicht, sondern oft eher nur das Gegenteil - aber einmal werden wir erkennen: Ja, Er hat wirklich "alles" - und auch mein Leben - "herrlich regiert".


Darum, dieser "blinde" Glaube - der Glaube also, der nicht dem Augenschein traut und Beweise sehen will, sondern der - wie der Blindgeborene zu Anfang - hört und Jesu Worten vertraut - dieser Glaube ist der in Wahrheit sehende Glaube - auch in dem Sinne, in dem es einmal der Missionar Walter Trobisch gesagt hat: Gott verspricht uns keinen Scheinwerfer, der den ganzen Lebensweg sichtbar werden lässt. Er verspricht uns nur (nur in Anführungszeichen) eine Lampe und zwar für den Fuss. Sie leuchtet nicht weit, nur ein kleines Stück. Sie enthält aber genug Licht, dass wir immer die nächsten kleinen Schritte im Vertrauen gehen können.


Im Vertrauen darauf, dass Gott mich persönlich kennt und Gutes für mich im Sinn hat - auch dann, wenn es dunkel wird in unserm Leben und wir den Sinn seines Tuns nicht durchschauen. Wenn wir dann bei Ihm bleiben, können wir wirklich erfahren, dass das stimmt, was ein schöner Liedvers so ausdrückt: " Er ist ein Fels, ein sichrer Hort/ und Wunder sollen schauen/ Die sich auf sein wahrhaftig Wort/verlassen und ihm trauen...


Zwei Worte sind mir in diesem Zusammmenhang wichtig geworden. Das eine, von dem brasilianischen Bischof Dom Helder Camara:


Sage Ja

zu den Überraschungen,

die deine Pläne

durchkreuzen,

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deine Träume

zunichtemachen,

deinem Tag eine ganz

andere Richtung geben -

ja vielleicht deinem Leben.

Sie sind nicht Zufall.

Lass dem himmlischen

Vater

die Freiheit, selber den

Verlauf deiner Tage

zu bestimmen.


Und das andere, kurz und knapp, von Luther: Wenn nicht geschieht, was wir wollen, so wird geschehen, was besser ist.


"Lasst uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens" - dieser Vers aus dem Hebräerbrief (12,2) sagt, finde ich, alles. Lasst uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens. Wann immer wir das tun, werden Seele und Augen hell und klar. Amen.


Das Lied, das wir jetzt singen: "So nimm denn meine Hände..." - das wird häufig ja bei Trauerfeiern gesungen; es ist aber eigentlich für die kirchliche Trauung geschrieben worden. Manche halten es für etwas rührselig, aber ich finde, es ist einfach schön und hat einen guten Text: Es bittet darum, dass Jesus unseren Lebensweg gestalten und führen möge: "...wo du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit. "