Gottesdienst am 1. Sonntag nach Trinitatis, 1. Juni 1997

 

Lieder:

 

Halleluja, Gott zu loben...635, 1 – 5

Nun bitten wir den heilgen Geist...124

Die Erde ist des Herrn...677

Ach, Herr, laß dein lieb Engelein... 397, 3

 

Psalm 34

 

Lesung: 5. Mose 6, 4 – 9

 

Predigttext: Lukas 16, 19 – 31

 

Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und  lebte alle Tage herrlich und in Freuden.

Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren

und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre.

Es begab sich aber, daß der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.

Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß.

Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen.

Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt.

Und überdies  besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, daß niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.

Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus;

denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.

Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.

Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun.

Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

 

 

                                                                        I

 

Merkwürdig, liebe Gemeinde. In unserer Welt ist es normalerweise doch umgekehrt. Die Reichen, die Wohlhabenden, die Angesehenen haben einen  Namen. Das Heer der Armen dagegen bleibt namenlos.

 

 

2

 

In Jesu Erzählung aber hat der Arme einen Namen, den Namen Lazarus. Und, man höre und staune, dieser Name bedeutet übersetzt sogar das gleiche wie der Name Jesus, nämlich: Gott hilft. Der Reicher dagegen hat keinen Namen. Jesus läßt ihn namenlos.

 

Warum?

 

Vielleicht, damit jeder von uns seinen Namen einsetzen kann?

 

Aber halt!

 

Soll es uns denn – dir, mir -  einmal so ergehen müssen wie dem Reichen hier? Sollten wir einmal diese entsetzlichen Qualen leiden müssen?

 

Gott behüte. Das kann Jesus doch nicht wollen.

 

Er will es auch nicht. Eben darum erzählt er diese Geschichte. Er erzählt von unserem Leben. Er erzählt unser Leben bis zu Ende.

 

Wir können das ja nicht. Wir kommen bei der Betrachtung und Bewertung des Lebens immer nur bis an die Todesgrenze. Aber nicht bis ans wirkliche Ende. Darum können wir auch über das Leben nicht urteilen. Weder über das eigene noch über das Leben anderer Menschen. Für uns bricht alles an dem Punkt ab, wo es von dem Reichen heißt: „Und er starb und wurde begraben“. Wir können nicht über den Tod hinaussehen. Für uns endet alles am Grab.

 

Jesus aber erzählt das Leben bis zu Ende. Er zeigt uns das Ganze. Für ihn ist der Tod kein Punkt, sondern ein Doppelpunkt. Das Eigentliche, die Erklärung von allem kommt erst danach.

 

Für uns ist der Tod wie ein eiserner Vorhang, wie eine verschlossene Tür. Für Jesus

aber ist er eine offene Tür. Er zeigt uns den Zusammenhang zwischen dem Leben hier und dort. Er sagt uns: Wie du hier gelebt hast, das entscheidet über dein Leben dort.

 

Und er erzählt uns diese Geschichte, damit wir hier richtig leben.

 

                                                                        II

 

Sehr anschaulich erzählt er, in starkem, farbenreichem Kontrast. Da ist ein Reicher. Und da ist ein Armer mit Namen Lazarus.

 

Jesus sagt nicht, daß der Reiche geizig, geldgierig, habsüchtig war. Er sagt auch nicht, daß er vielleicht ein lasterhafter Lebemann oder ein skrupelloser Geschäftemacher war. Jesus sagt nur:  Er war sehr gut gekleidet und „lebte alle Tage herrlich und in Freuden“.

 

 

 

3

 

Vielleicht war er ja ein energischer, fleißiger, zielstrebiger Mensch. Vielleicht hat er ja sogar etwas gegeben, wenn an seiner Haustür gesammelt wurde. Oder er hatte Daueraufträge für bestimmte soziale Projekte laufen. Oder er sponserte irgendetwas.

 

Und der Arme: Das war nicht etwa so ein demütiger Dulder. Sondern er war schlichtweg arm. Und hilflos. So hilflos, daß er die Köter nicht vertreiben konnte, die an seinen Geschwüren leckten. Er war krank, bot vermutlich einen ziemlich abstoßenden Anblick mit seinen Geschwüren. Oder Metastasen. Oder Aids – Symptomen. Und er war hungrig. So hungrig, daß er sich mit Freuden über die Abfälle hergemacht hätte, die von den Büffets des Reichen überblieben.

 

Damit wir klar sehen: Jesus sagt hier nichts gegen den Reichtum. Und nichts Positives über die Armut. Er sagt auch nicht, daß der Reiche schlecht und der Arme gut gewesen wäre. Er sagt nur: Der Arme liegt vor der Tür des Reichen. und der kümmert sich offenbar nicht darum.

 

 

                                                                        III

 

Es geht Jesus um die Beziehung zwischen den Beiden, die offenbar nicht vorhanden ist. Der Arme hätte sie sicher gern geknüpft. Aber der Reiche blieb in seinen Kreisen.

 

Der Reiche hat den Lazarus offenbar nicht gesehen. Oder er hat ihn nur mit Blicken gestreift, während er vorüberging. Er hat ihn übersehen. Oder allenfalls von oben herab angesehen, leicht angewidert oder auch erschrocken vielleicht. Aber er hat ihn  nicht angesehen, nicht mit ihm gesprochen.

 

Martin Buber berichtet in dem Buch „Erzählungen der Chassidim“, wie die Gemeindevorsteher zum Rabbi gehen und ihm sagen, sie hätten eine Neuerung in der Gemeinde eingeführt. Es solle nicht mehr länger das Dankopfer seitens der Wohlhabenden persönlich in die Hände der armen Gemeindeglieder gelegt werden, sondern man wolle eine Sammelbüchse aufstellen, in die jeder Spenden einlegen könne, die dann zentral verteilt würden. Darauf der Rabbi empört: „Das tat man wohl in Sodom und Gomorra! Da hatte man wohl solch eine Büchse, in die die Reichen ihr Almosen legten – um den Armen nicht ins Auge schauen zu müssen...“

 

„Um den Armen nicht ins Auge schauen zu müssen...“. Und, so erläutert Buber, jeder fromme Jude hörte hier sofort das Unausgesprochene mit: Um G o t t nicht ins Auge schauen zu müssen. Denn das sagt uns ja die ganze Bibel: Gott will uns vorwiegend in den „Niedrigen und Geringen“ begegnen. Und Jesus sagt es in Matthäus 25 ja sehr deutlich: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan“.

 

In Lazarus begegnet uns Jesus. Aber wer ist Lazarus heute?

 

 

 

 

 

4

                                                                        IV

 

Ich glaube, die Antwort ist klar: Lazarus, das ist immer gerade der Bedürftige, der mir eben jetzt, der mir heute begegnet. Jesus sagt: Übersieh ihn nicht. Sieh ihn auch nicht von oben herab an. Sieh ihn an.

 

Vielleicht kannst du ihm nicht helfen. Ein Almosen, von oben herab  und im Vorbeigehen gegeben, wäre vielleicht sogar ganz falsch. Aber sieh ihn an. Vielleicht kann er sogar hilfreich für  d i c h  werden, wenn du ihn ansiehst, mit ihm sprichst.

 

Lazarus: Das kann allerdings auch einmal eine ganze Gruppe von Menschen sein: Juden, Zigeuner, Kommunisten im sog. Dritten Reich. In ihnen begegnete einem Lazarus.

 

Oder, ganz umfassend und sicher pauschal gesagt: Die wirtschaftlich armen Länder vor der Tür der wirtschaftlich reichen Länder. Der Theologe Helmut Gollwitzer hat Ende der sechziger Jahre ein Buch mit dem Titel geschrieben: Die reichen Christen und der arme Lazarus – ein Buch, dessen wesentliche Aussagen auch heute noch stimmen.  Wir können die Weltwirtschaft nicht schlagartig ändern. Aber wir können zum Beispiel durch Einkaufen im Dritte Welt Laden zeigen, daß Menschen und Gruppen aus wirtschaftlich armen Ländern mit ihrer Arbeit und ihrer Kultur von uns angesehen werden. Und wir können das himmelschreiende Unrecht beim Namen nennen, das darin liegt, daß viele Bundesbürger unfaßlichen Reichtum aufhäufen – 5 Billionen DM sind auf den Sparkonten des Bundesbürger gehortet! – und daß manche Banken und manche Großunternehmen horrende Gewinne machen, oft um so mehr, je mehr Arbeitsplätze sie streichen -  während auf der anderen Seite in wachsendem Maße Menschen ohne Arbeit herumstreunen, verwahrlosen, verelenden.

 

Den, die Anderen sehen, sie als Söhne und Töchter Gottes ansehen, sie von gleich zu gleich ansehen und entsprechend behandeln, ihnen gerecht werden, so gut wir können, darum geht es Jesus. Um die Beziehung zwischen uns und Lazarus. Ehe es zu spät ist.

                       

 

                                                                       

V

 

Denn nun erzählt Jesus bis zu Ende.

 

Lazarus stirbt und wird von den Engeln in Abrahams Schoß getragen.

 

Der Reiche erhält immerhin ein Begräbnis und gelangt nach seinem Ableben an einen Ort brennender Qual. Jetzt erkennt er sein furchtbares Versäumnis. Er erkennt, was er verpaßt hat, welche Chancen er vertan hat. Aber es ist zu spät. Die Tür ist hinter ihm zugefallen. Endgültig. Auch seine Brüder kann er nicht mehr warnen. Es würde auch nichts nützen. Wenn sie nur wollten, sie könnten ja alles Notwendige wissen. Sie könnten ernst nehmen, was die Bibel sagt, auch was sie vom Leben nach dem Tode und vom Gericht über uns und von der Hölle sagt.

 

5

 

Wie oft, liebe Gemeinde, sagen mir Menschen: Ich glaube nicht an ein Weiterleben...Für mich ist mit dem Tode alles aus...Wir werden wieder zu Erde. Wir kehren in den Kreislauf der Natur zurück.

 

Welch ein furchtbarer Selbstbetrug, wenn wir unser Leben  so einrichten würden, als sei „mit dem Tode alles aus“. Welch ein schuldhaftes Versäumnis, wenn wir Pastoren

nicht mehr vom Jüngsten Gericht und dem Urteil Gottes über unser Leben predigen würden. Dann tun es an unserer Statt Menschen, die sich selbst Atheisten nennen, wie zum Beispiel Bertold Brecht im Text der Oper „Die Verurteilung des Lukullus“, die zur Zeit im Aalto – Theater zu hören und zu sehen ist.

 

Gott wird uns im Jüngsten Gericht nach Lazarus fragen. Ob wir ihn übersehen haben. Von oben herab angesehen haben. Oder aber ihn als Bruder und Schwester

angesehen haben.  Dementsprechend wird das Urteil über unser Leben gefällt werden.

 

Geborgenheit in Abrahams Schoß – oder aber brennende unauslöschliche Pein: Die Hölle. Für mich ist kein Zweifel an der Realität der Hölle im Jenseits.

 

 

 

Aber einen Vorgeschmack von Beidem können wir ja hier schon erfahren. Es ist ein Vorgeschmack der Hölle, es läßt den Lebensdurst ganz ungestillt, wenn man egoistisch lebt, in den eigenen Kreisen bleibt. Und es ist ein Vorgeschmack himmlischer Geborgenheit und Seligkeit, wenn wir uns von den Gaben des Evangeliums so beschenken lassen, daß wir jedem Anderen in dem Wissen begegnen: Er ist in gleicher Weise von Gott angesehen wie ich, ebenso unverdient geliebt wie ich.

 

Jesus erzählt, weil er für uns das Leben will. Hier schon, und einmal in aller Fülle und Seligkeit. Jesus erzählt, weil er uns zur Lebensfreude helfen will, die wir nur im Miteinander erfahren, hier schon und einmal in ewiger Freude und Wonne, in durch nichts mehr gehinderter Gemeinschaft mit Gott und miteinander.

 

Darum: Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, der uns in Lazarus begegnet. Amen.




Weitere Predigten von Pfarrer Martin Quaas, Essen-Rellinghausen, finden Sie unter www.martin-quaas.de/predigten.