Gottesdienst am 18. Sonntag nach Trinitatis, 19. Oktober 2003

 

Lieder:

Nun lob, mein Seel, den Herren...289, 1.2.4

Herzlich lieb hab ich dich, o Herr...397

Dir dir, o Höchster, will ich singen...328, 1 und 2

Alles ist an Gottes Segen und an seiner Gnad gelegen...352, 1 und 2

 

Psalm 1 (Nr. 702)

Schriftlesung:  5. Mose 6, 4 – 13

 

„Herzlich lieb hab ich dich o Herr...“ haben wir eben gesungen. Ob Sie das ehrlich sagen können: Ich habe dich lieb, Gott, ich liebe dich von Herzen? Kann man das überhaupt, Gott lieben? Ist Gott nicht unbegreiflich, undurchschaubar, unergründlich, unfasslich?

 

Wenden wir uns mit dieser Frage an den heutigen Predigttext. Er ist eines der sog. Streitgespräche, die Jesus auf dem Tempelvorplatz mit Pharisäern und Schriftgelehrten führte, vorausgegangen ist eine Diskussion über die Auferstehung. Und dann  beginnt ein letztes Gespräch, an dessen Ende zwei Juden sich gegenseitig Respekt und  Hochachtung zollen. Ich lese aus Markus 12 die Verse 28 bis 34:

 

Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?

Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,

und du sollst den Herrn deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften“ (5. Mose 6, 4.5.).

Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19, 18). Es ist kein anderes Gebot grösser als diese.

Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer ausser ihm;

und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.

Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

 

Liebe Gemeinde!

 

Sche’ma jissra’el adonaj elohenu, adonaj ächad. We ahaftah ät adonaj elohächa be’kol le’bab’cha u be’kol naf’sche’cha u be’kol me’odächa.

 

Das ist das sog. Sche’ma Jißrael, das hebräische Glaubensbekenntnis, das wir eben in

der Lesung hörten und das der Jude Jesus hier als höchstes aller Gebote nennt: Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott,  liebhaben von ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Dieses Glaubensbekenntnis, dieses Gebot soll von jedem gläubigen Juden jeden Morgen und

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jeden Abend gesprochen werden, jüdische Kinder sollen es lernen, sobald sie sprechen  können, nämlich im dritten Lebensjahr, und Sterbende sollen es als allerletztes Gebet sprechen. Und es ist überliefert, dass zahlreiche jüdische Märtyrer mit diesem Bekenntnisgebet auf den Lippen gestorben sind, bis hin zu den Gaskammern in den KZ’s, murmelnd, röchelnd: Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst liebhaben den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit all deiner Kraft  Und dann sind sie gestorben.

 

Jeder Jude also und jeder Christ soll Gott – den Gott der Bibel – liebhaben, mit all seinen Sinnen, mit all seinen Empfindungen und seinem Verstand, mit all seiner Kraft. Noch einmal: Können wir das denn – Gott lieben?

 

Viele Menschen denken oder sagen von Gott ja eher: Er ist ein „höchstes Wesen“...oder Er ist „die Macht des Schicksals“. Die griechischen Weisen sagten: Gott, das ist die erste Ursache von allem oder: Gott, das ist der erste unbewegte Beweger.

 

Ein zeitgenössischer Theologe, Paul Tillich, nennt ihn den Grund des Seins...Lauter „Gottesbegriffe“,aber einen Gottesbegriff kann man denken, aber nicht lieben. Und ein großer alttestamentlicher Theologe, Gerhard von Rad, hat einmal geschrieben: „Wer kluge und tiefsinnige Gedanken über Gott lesen will, der sollte sich nicht an das Alte Testament wenden, dazu war Israel viel zu sehr in  der Defensive gegen Gott“.

 

„In der Defensive gegen Gott!“ Was für eine radikal andere Gotteserfahrung!

 

In der Defensive!? Das heißt doch: Die Angehörigen des biblischen  Volkes Gottes suchten sich vor ihm zu schützen, sich gegen ihn zu verteidigen, Gott war also einer, der in ihr Leben eingriff, einer, der sie auch schon  mal angriff in ihrem Verhalten, der offensiv und zornig gegen sie vorging, der ihr Verhalten in  Frage stellte, ihnen auch schmerzhaft, ja sogar feindselig begegnen konnte...!   Ja - so ist er den Menschen des Volkes Israel immer wieder begegnet – oft auf ganz überraschende, unvermutete, völlig unerwartete Weise – ein lebendiger Gott, der ständig alle Begriffe von ihm in Frage stellte, alle Bilder von ihm zerbrach, ein redender, zurechtweisender, eifersüchtiger Gott, der ganz allein das Sagen über alle Lebensbereiche haben wollte, ein Gott, der einen ganz und  gar beanspruchte, unter dem man litt, der einem dunkel, grausam, schrecklich erscheinen konnte, vor allem aber: Ein Gott, der die Freiheit liebte und als Befreier kam. So offenbart er sich ja dem Mose in  einem der herrlichsten Texte der Heiligen Schrift überhaupt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten  gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört...“, sagt er zu Mose. „Ich bin herniedergefahren,um sie zu erretten aus der Sklaverei und sie herauszuführen in ein gutes und weites Land ...“(2. Mose 3). Wozu übrigens der Talmud kommentiert: Hätte Israel nicht geschrieen, so hätte Gott auch nicht gehört.

 

Gott hört das Klagen und  Schreien der Versklavten, Gott kommt herunter,  will sie befreien und zur Lebensfülle führen...Und schließlich – so hören wir im Neuen Testament – wird er ja ein im wörtlichen Sinne heruntergekommener Gott: In einer Strohkrippe liegend, an einem Kreuz hängend....Und da – da kommt er uns Menschen  am bedrängendsten und erschütterndsten nahe.

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So haben die Menschen der Bibel ihn erfahren, als einen, der ihnen bedrängend nahekam, wunderbar befreiend an ihnen handelte, sie liebend – und sie ihrerseits kamen nicht mehr von ihm los, weil sie ihrerseits ihn – liebten.

 

Können Sie sagen: Doch, das kann ich nachempfinden...das geht mir geradeso?! Auch ich bin von ihm gepackt, von ihm ergriffen, komme nicht los von ihm, will und  kann nicht mehr ohne ihn  leben?!

 

Wir können es dann, wenn er uns begegnet ist und  begegnet als der lebendige, zu uns persönlich redende Gott, der uns  sagt und  beweist, daß wir ihm unendlich viel wert sind, daß er an uns hängt, uns braucht, uns liebt, uns sucht... So wie es der Mystiker Johannes vom Kreuz einmal formuliert hat: Sucht der Mensch Gott – viel dringlicher sucht Gott den Menschen! 

 

Ich hatte mitten im Theologiestudium eine Zeit – Monate dauerte sie, schlimme Monate waren das - da war ich absolut überzeugt: Es kann keinen Gott geben. Sondern alle Religionen sind nur von  Menschen erdachte Illusionen. Bis ich dann beim Lesen in den Evangelien von Jesus richtig ergriffen wurde – oder – auch das weiß ich noch genau – einmal – geradezu wie im  Rausch - die Kapitel 40 bis 55 des Jesajabuches las, ganz tief von den wunderbaren Trostworten darin bewegt wurde...Und so kann es uns allen gehen, beim Lesen biblischer Erzählungen oder eines einzigen Verses...Wir werden von Gott ergriffen und  merken irgendwann: Ja, ich habe ihn lieb, komme nicht mehr von ihm los, will es auch gar nicht, und wenn wieder die Fragen kommen, Rätsel, schwere Lebenserfahrungen...Es bleibt gewiß, er ist voller Liebe, er ist, wie Luther es ausdrückt, „ein  glühender Backofen voller Liebe, der von der Erde bis an den Himmel reicht“: Eine Formulierung, in der die Heiligkeit Gottes genannt ist, und dies, dass er, wie es in der Bibel öfter heisst, „ein verzehrendes Feuer“ ist (2. Mose 24, 17; 5. Mose 4, 24; 9, 3; Hebr. 12, 29), aber vor allem dies, dass er in seinem innersten Wesen Liebe ist, brennende, tröstende, befreiende Liebe.

 

Und nun zitiert Jesus noch ein zweites Gebot, das sich ebenfalls im Alten Testament findet, im 3. Buch Mose, und er sagt: Dieses ist dem höchsten Gebot gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.

 

Er bindet die Liebe zu Gott, zu mir selbst und zu anderen Menschen aufs engste zusammen.

 

Und nach allem, was die Bibel von Gott sagt, ist das ja im Grunde nur konsequent. Wenn sie mir sagt: Ich bin Gott wichtig und wertvoll, er kennt und liebt mich, ich kann mich seiner Führung anvertrauen, kann auf ihn  hören, werde Freiheit erfahren...Ja, wenn ich Gott so am Herzen liege, dann kann ich doch auch mich selbst bejahen, mich, wenn Gott mich gut findet, auch selbst gut finden, mich also in diesem Sinne selbst lieben, mit mir selbst im Frieden, also zu-frieden sein.

 

Und wenn all das nicht nur für mich, sondern genauso für meinen Nächsten, und  zwar für jeden gilt, wenn es wahr ist, was Friedrich von Bodelschwingh ausdrückte: Es geht

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kein Mensch über Gottes Erdboden, den Gott nicht liebt - dann ist es  nur logisch und  konsequent, daß ich mich jedem, der mir begegnet, ebenfalls in dieser Haltung der Hochachtung, des Respekts, der Liebe zuwende.

 

Nun las ich vor Jahren einmal einen bitteren Satz, den Karl Marx an einen Freund geschrieben hat: Er schrieb: Ich kann das Liebesgesabbere der Christen nicht mehr hören. Er meinte: die Christen  reden dauernd von Nächstenliebe....aber wie verhalten sie sich denn! Und das ist ja wahr. Wenn wir uns doch unseren Worten entsprechend auch verhalten würden! Dem Nächsten die Liebe erweisen, die Gott für ihn hat. Dem nahen Nächsten, dem, dem ich auf der Straße begegne, dem in  der Familie, der mich gerade gekränkt hat, dem in der Gemeinde, den ich vielleicht aufgrund seines Geizes, seines törischten Verhaltens verachte...und auch dem fernen Nächsten, dem Gott in der Gestalt von Brot, von Gerechtigkeit erscheinen will...Vergessen wir nie: Die Pharisäer, die wir für überheblich halten, die haben ihren Glauben so ernst genommen, daß sie regelmäßig den Zehnten, 10% ihres Einkommens, für die Armen abgaben!

 

Den Nächsten lieben wie mich selbst! Klar – das geht immer nur dann, wenn Gottes Wort, Gottes Liebe mir zur Kraftquelle wird, wenn ich Gott tröstend, befreiend, erlösend, freudeweckend erfahre...Dann strömt die Liebe,die ich von ihm  empfange, in mein Herz – und von dort wie von selbst weiter zu meinem Nächsten.  

 

Ich schließe mit einem Zitat aus den „Gebrüdern Karamassow“ von Dostojewskij, das ich mir in die Bibel gelegt habe, um täglich an seine Schönheit und Wahrheit erinnert zu werden:

 

Da sagt der Mönch Sossima: „Du wirst manchmal ratlos sein, besonders, wenn du die Schwächen der Menschen anschaust, und wirst dich fragen: Soll man es mit Gewalt versuchen oder mit demütiger Liebe? Entscheide dich immer so: Mit demütiger Liebe will ich es versuchen! Dann  wirst du die ganze Welt besiegen können. Denn liebevolle Demut ist eine Gewalt, und die stärkste von allen, und  es gibt nichts, was ihr an Macht gleichkäme“. 

 

Bei diesem letzten Satz sehe ich ein Bild vor Augen, aus dem letzten Kapitel der Bibel (Offenbarung 21f): Ein  Thron – und auf dem Thron einer, der sagt: Siehe,ich mache alles neu. Und  der das sagt, den sieht der Seher Johannes als ein  - Lamm. Das letzte Wort über alle und alles spricht ein Lamm. Gottes Allmacht, die am Ziel alle lebenzerstörenden Gewalten  überwunden haben wird, zeigt sich in  einem Lamm.

 

Darum: Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, dem Lamm Gottes,  unserm Herrn. Amen.

 

 

 

Weitere Predigten von Pfarrer Martin Quaas, Essen-Rellinghausen, finden Sie unter www.martin-quaas.de/predigten.