Lieder:
Nun lob, mein Seel, den
Herren...289, 1.2.4
Herzlich lieb hab ich dich, o
Herr...397
Dir dir, o Höchster, will ich
singen...328, 1 und 2
Alles ist an Gottes Segen und an
seiner Gnad gelegen...352, 1 und 2
Psalm 1 (Nr. 702)
Schriftlesung: 5. Mose 6, 4 – 13
„Herzlich lieb hab ich dich o
Herr...“ haben wir eben gesungen. Ob Sie das ehrlich sagen können: Ich habe
dich lieb, Gott, ich liebe dich von Herzen? Kann man das überhaupt, Gott lieben?
Ist Gott nicht unbegreiflich, undurchschaubar, unergründlich, unfasslich?
Wenden wir uns mit dieser Frage
an den heutigen Predigttext. Er ist eines der sog. Streitgespräche, die Jesus
auf dem Tempelvorplatz mit Pharisäern und Schriftgelehrten führte,
vorausgegangen ist eine Diskussion über die Auferstehung. Und dann beginnt ein letztes Gespräch, an dessen Ende
zwei Juden sich gegenseitig Respekt und
Hochachtung zollen. Ich lese aus Markus 12 die Verse 28 bis 34:
Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten,
der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er
ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von
allen?
Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,
und du sollst
den Herrn deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem
Gemüt und von allen deinen Kräften“ (5. Mose 6, 4.5.).
Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19, 18).
Es ist kein anderes Gebot grösser als diese.
Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du
hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer ausser
ihm;
und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt
und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr
als alle Brandopfer und Schlachtopfer.
Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete,
sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr,
ihn zu fragen.
Liebe Gemeinde!
Sche’ma jissra’el adonaj elohenu, adonaj ächad. We ahaftah ät adonaj elohächa be’kol le’bab’cha u be’kol naf’sche’cha u be’kol me’odächa.
Das ist das sog. Sche’ma
Jißrael, das hebräische Glaubensbekenntnis, das wir eben in
der Lesung hörten und das der
Jude Jesus hier als höchstes aller Gebote nennt: Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst
den Herrn, deinen Gott, liebhaben von
ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Dieses
Glaubensbekenntnis, dieses Gebot soll von jedem gläubigen Juden jeden Morgen
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jeden Abend gesprochen werden,
jüdische Kinder sollen es lernen, sobald sie sprechen können, nämlich im dritten Lebensjahr, und Sterbende sollen es
als allerletztes Gebet sprechen. Und es ist überliefert, dass zahlreiche
jüdische Märtyrer mit diesem Bekenntnisgebet auf den Lippen gestorben sind, bis
hin zu den Gaskammern in den KZ’s, murmelnd, röchelnd: Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst
liebhaben den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele und
mit all deiner Kraft Und dann sind
sie gestorben.
Jeder Jude also und jeder Christ
soll Gott – den Gott der Bibel – liebhaben, mit all seinen Sinnen, mit all
seinen Empfindungen und seinem Verstand, mit all seiner Kraft. Noch einmal:
Können wir das denn – Gott lieben?
Viele Menschen denken oder sagen
von Gott ja eher: Er ist ein „höchstes Wesen“...oder Er ist „die Macht des
Schicksals“. Die griechischen Weisen sagten: Gott, das ist die erste Ursache
von allem oder: Gott, das ist der erste unbewegte Beweger.
Ein zeitgenössischer Theologe,
Paul Tillich, nennt ihn den Grund des Seins...Lauter „Gottesbegriffe“,aber
einen Gottesbegriff kann man denken, aber nicht lieben. Und ein großer
alttestamentlicher Theologe, Gerhard von Rad, hat einmal geschrieben: „Wer kluge und tiefsinnige Gedanken über Gott
lesen will, der sollte sich nicht an das Alte Testament wenden, dazu war Israel
viel zu sehr in der Defensive gegen
Gott“.
„In der Defensive gegen Gott!“
Was für eine radikal andere Gotteserfahrung!
In der Defensive!? Das heißt
doch: Die Angehörigen des biblischen
Volkes Gottes suchten sich vor ihm zu schützen, sich gegen ihn zu
verteidigen, Gott war also einer, der in ihr Leben eingriff, einer, der sie
auch schon mal angriff in ihrem
Verhalten, der offensiv und zornig gegen sie vorging, der ihr Verhalten in Frage stellte, ihnen auch schmerzhaft, ja
sogar feindselig begegnen konnte...!
Ja - so ist er den Menschen des Volkes Israel immer wieder begegnet –
oft auf ganz überraschende, unvermutete, völlig unerwartete Weise – ein
lebendiger Gott, der ständig alle Begriffe von ihm in Frage stellte, alle
Bilder von ihm zerbrach, ein redender, zurechtweisender, eifersüchtiger Gott,
der ganz allein das Sagen über alle Lebensbereiche haben wollte, ein Gott, der
einen ganz und gar beanspruchte, unter
dem man litt, der einem dunkel, grausam, schrecklich erscheinen konnte, vor
allem aber: Ein Gott, der die Freiheit liebte und als Befreier kam. So
offenbart er sich ja dem Mose in einem
der herrlichsten Texte der Heiligen Schrift überhaupt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört...“, sagt
er zu Mose. „Ich bin herniedergefahren,um
sie zu erretten aus der Sklaverei und sie herauszuführen in ein gutes und
weites Land ...“(2. Mose 3). Wozu übrigens der Talmud kommentiert: Hätte Israel nicht geschrieen, so hätte Gott
auch nicht gehört.
Gott hört das Klagen und Schreien der Versklavten, Gott kommt
herunter, will sie befreien und zur
Lebensfülle führen...Und schließlich – so hören wir im Neuen Testament – wird
er ja ein im wörtlichen Sinne heruntergekommener Gott: In einer Strohkrippe
liegend, an einem Kreuz hängend....Und da – da kommt er uns Menschen am bedrängendsten und erschütterndsten nahe.
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So haben die Menschen der Bibel
ihn erfahren, als einen, der ihnen bedrängend nahekam, wunderbar befreiend an
ihnen handelte, sie liebend – und sie ihrerseits kamen nicht mehr von ihm los,
weil sie ihrerseits ihn – liebten.
Können Sie sagen: Doch, das kann
ich nachempfinden...das geht mir geradeso?! Auch ich bin von ihm gepackt, von
ihm ergriffen, komme nicht los von ihm, will und kann nicht mehr ohne ihn
leben?!
Wir können es dann, wenn er uns
begegnet ist und begegnet als der
lebendige, zu uns persönlich redende Gott, der uns sagt und beweist, daß wir
ihm unendlich viel wert sind, daß er an uns hängt, uns braucht, uns liebt, uns
sucht... So wie es der Mystiker Johannes vom Kreuz einmal formuliert hat: Sucht der Mensch Gott – viel dringlicher
sucht Gott den Menschen!
Ich hatte mitten im
Theologiestudium eine Zeit – Monate dauerte sie, schlimme Monate waren das - da
war ich absolut überzeugt: Es kann keinen Gott geben. Sondern alle Religionen
sind nur von Menschen erdachte
Illusionen. Bis ich dann beim Lesen in den Evangelien von Jesus richtig
ergriffen wurde – oder – auch das weiß ich noch genau – einmal – geradezu wie
im Rausch - die Kapitel 40 bis 55 des
Jesajabuches las, ganz tief von den wunderbaren Trostworten darin bewegt
wurde...Und so kann es uns allen gehen, beim Lesen biblischer Erzählungen oder
eines einzigen Verses...Wir werden von Gott ergriffen und merken irgendwann: Ja, ich habe ihn lieb,
komme nicht mehr von ihm los, will es auch gar nicht, und wenn wieder die
Fragen kommen, Rätsel, schwere Lebenserfahrungen...Es bleibt gewiß, er ist
voller Liebe, er ist, wie Luther es ausdrückt, „ein glühender Backofen voller
Liebe, der von der Erde bis an den Himmel reicht“: Eine Formulierung, in
der die Heiligkeit Gottes genannt ist, und dies, dass er, wie es in der Bibel
öfter heisst, „ein verzehrendes Feuer“
ist (2. Mose 24, 17; 5. Mose 4, 24; 9, 3; Hebr. 12, 29), aber vor allem dies,
dass er in seinem innersten Wesen Liebe ist, brennende, tröstende, befreiende
Liebe.
Und nun zitiert Jesus noch ein
zweites Gebot, das sich ebenfalls im Alten Testament findet, im 3. Buch Mose,
und er sagt: Dieses ist dem höchsten Gebot gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.
Er bindet die Liebe zu Gott, zu
mir selbst und zu anderen Menschen aufs engste zusammen.
Und nach allem, was die Bibel
von Gott sagt, ist das ja im Grunde nur konsequent. Wenn sie mir sagt: Ich bin
Gott wichtig und wertvoll, er kennt und liebt mich, ich kann mich seiner
Führung anvertrauen, kann auf ihn
hören, werde Freiheit erfahren...Ja, wenn ich Gott so am Herzen liege,
dann kann ich doch auch mich selbst bejahen, mich, wenn Gott mich gut findet,
auch selbst gut finden, mich also in diesem Sinne selbst lieben, mit mir selbst
im Frieden, also zu-frieden sein.
Und wenn all das nicht nur für
mich, sondern genauso für meinen Nächsten, und
zwar für jeden gilt, wenn es wahr ist, was Friedrich von Bodelschwingh
ausdrückte: Es geht
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kein Mensch über Gottes Erdboden, den Gott nicht liebt
- dann ist es
nur logisch und konsequent, daß
ich mich jedem, der mir begegnet, ebenfalls in dieser Haltung der Hochachtung,
des Respekts, der Liebe zuwende.
Nun las ich vor Jahren einmal
einen bitteren Satz, den Karl Marx an einen Freund geschrieben hat: Er schrieb:
Ich kann das Liebesgesabbere der Christen
nicht mehr hören. Er meinte: die Christen
reden dauernd von Nächstenliebe....aber wie verhalten sie sich denn! Und
das ist ja wahr. Wenn wir uns doch unseren Worten entsprechend auch verhalten
würden! Dem Nächsten die Liebe erweisen, die Gott für ihn hat. Dem nahen
Nächsten, dem, dem ich auf der Straße begegne, dem in der Familie, der mich gerade gekränkt hat, dem in der Gemeinde,
den ich vielleicht aufgrund seines Geizes, seines törischten Verhaltens
verachte...und auch dem fernen Nächsten, dem Gott in der Gestalt von Brot, von
Gerechtigkeit erscheinen will...Vergessen wir nie: Die Pharisäer, die wir für
überheblich halten, die haben ihren Glauben so ernst genommen, daß sie
regelmäßig den Zehnten, 10% ihres Einkommens, für die Armen abgaben!
Den Nächsten lieben wie mich
selbst! Klar – das geht immer nur dann, wenn Gottes Wort, Gottes Liebe mir zur
Kraftquelle wird, wenn ich Gott tröstend, befreiend, erlösend, freudeweckend
erfahre...Dann strömt die Liebe,die ich von ihm empfange, in mein Herz – und von dort wie von selbst weiter zu
meinem Nächsten.
Ich schließe mit einem Zitat aus
den „Gebrüdern Karamassow“ von Dostojewskij, das ich mir in die Bibel gelegt
habe, um täglich an seine Schönheit und Wahrheit erinnert zu werden:
Da sagt der Mönch Sossima: „Du wirst manchmal ratlos sein, besonders,
wenn du die Schwächen der Menschen anschaust, und wirst dich fragen: Soll man
es mit Gewalt versuchen oder mit demütiger Liebe? Entscheide dich immer so: Mit
demütiger Liebe will ich es versuchen! Dann
wirst du die ganze Welt besiegen können. Denn liebevolle Demut ist eine
Gewalt, und die stärkste von allen, und
es gibt nichts, was ihr an Macht gleichkäme“.
Bei diesem letzten Satz sehe ich
ein Bild vor Augen, aus dem letzten Kapitel der Bibel (Offenbarung 21f):
Ein Thron – und auf dem Thron einer,
der sagt: Siehe,ich mache alles neu. Und der das sagt, den sieht der Seher Johannes
als ein - Lamm. Das letzte Wort über
alle und alles spricht ein Lamm. Gottes Allmacht, die am Ziel alle
lebenzerstörenden Gewalten überwunden
haben wird, zeigt sich in einem Lamm.
Darum: Der Friede Gottes, der
höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus,
dem Lamm Gottes, unserm Herrn. Amen.