Frühgottesdienst am 13. Sonntag nach Trinitatis, 21. August 2005


Lieder:


Herz und Herz vereint zusammen...251, 1.6.7

O Lebensbrünnlein...399, 1-5. 6 und 7

Jesu, der du bist alleine Haupt und König der Gemeine...252, 1.2.


Psalm 100 (Nr. 743)


Lesung: 1. Joh. 4, 7 - 12



Predigt über Markus 3, 20f.; 31-34


„Liebe Kirchentagsfamilie!“ So begrüßte Bischöfin Margot Käßmann in Hannover die Menschenmenge, die zum großen Schlußgottesdienst zusammengekommen war. „Liebe Kirchentagsfamilie!“ - Diese hunderttausend Menschen - eine Familie? Oder: Die Teilnehmer am derzeitigen Weltjugendtreffen in Köln - eine Familie? Was ist denn wesentliches Kennzeichen einer Familie? Fragen wir Jesus und hören auf den vorgeschlagenen Predigttext aus dem Markusevangelium Kapitel 3.


Jesus ist in Kapernaum, am Nordostufer des Sees Genezareth, und dann heißt es:


Und er ging in ein Haus.

Und da kam abermals das Volk zusammen, so daß sie nicht einmal essen konnten.

Und als es seine Angehörigen (in Nazareth) hörten, ( was er dort tat), machten sie sich auf und wollten ihn festhalten, denn sie sprachen: Er ist von Sinnen.

Die Schriftgelehrten aber, die von Jerusalem herabgekommen waren, sprachen: Er hat den Beelzebul, und: Er treibt die bösen Geister aus durch ihren Obersten.

Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.

Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.

Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.


Mutter Maria mitsamt ihren vielen Kindern – von Vater Josef hören wir auch hier nichts -: Sie machen sich Sorgen um Jesus, und zugleich um den guten Ruf der

Familie.


In Markus 6 werden sie namentlich genannt, die vier Söhne Marias, die Brüder von Jesus: Jakobus, Joses, Judas, Simon – lauter damals häufige Vornamen; auch Schwestern werden – allerdings ohne Namensnennung – erwähnt. Ihnen ist es offenbar wichtig, als intakte, angesehene Familie mit makellosem Ruf zu erscheinen. Darum beraten sie über dieses schwarze Schaf Jesus. Von dem hört man die merkwürdigsten Dinge – Exorzismus übt er, böse Geister, Dämonen treibt er

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aus. Und er predigt auf höchst unkonventionelle Art. Auch sein Umgang mit Menschen ist befremdlich bis anstößig. Man äußert sogar die Befürchtung, er könnte von Sinnen, verrückt sein. Der Familienrat beschließt, ihn - notfalls mit Gewalt – in den Schoß der Familie, nach Nazareth zurückzuholen. Und sie machen sie sich auf den Weg – ca. 30km - nach Kapernaum.


Dort angekommen, sehen sie: Da ist Einiges los, großes Gedränge und Geschiebe, alle möglichen Leute sind herbeigeströmt, Kranke, Hilfesuchende, auch gelehrte Theologen aus der Hauptstadt Jesusalem und natürlich viele Neugierige: Sie drängen sich um Jesus, bedrängen ihn mit ihren Anliegen; manchmal kommt er nicht einmal zum essen. Er ist in ein Haus gegangen – das Haus, das ihm in Kapernaum sozusagen als Standquartier diente: Man nimmt an, entweder das Haus des Simon Petrus und seiner Familie oder das Haus des Steuereinnehmers Levi.


Dann stehen sie da draußen vor der Tür. Merkwürdig, daß sie nicht einfach hineingehen. Oder auch nicht merkwürdig? Vielleicht wollen sie ihm zeigen, wer das Sagen hat und wer zu gehorchen hat. Der ungeratene Sohn soll gefälligst zu ihnen herauskommen. Das lassen sie ihm ausrichten.


Und Jesus reagiert so skandalös wie wir es heute kaum noch nachempfinden können. Auch heute noch gilt der Familienclan im Orient ja ungeheuer viel, da darf nichts Ehrenrühriges in der Familie passieren. Die Autorität des Vaters ist die eines Patriarchen, und die Ehre der Mutter, auch der weiblichen Geschwister, darf nicht angetastet werden.


Jesus reagiert so, daß die Leute nicht anders können, als völlig entsetzt zu sein. Er reagiert schockierend, sozusagen äußerst familienfeindlich. Er sagt nicht: Entschuldigung, meine Angehörigen warten draußen, da muß ich natürlich sofort zu ihnen. Stattdessen wendet er sich denen zu, die sich dort im Hause um ihn scharen, blickt ihnen in die Augen und sagt: Du und du und du...ihr seid meine Schwester, meine Mutter, meine Brüder...Ihr, die ihr den Willen Gottes tun wollt: Ihr seid meine Familie!


II


Nun müssen wir schon sagen: Jesus will mit diesen Worten ja nicht die Familie abschaffen oder auch nur infrage stellen. Wohl aber macht er klar: Der Wille Gottes hat Vorrang vor Familienbanden.


Aber was ist der Wille Gottes? Das ist in jeder Situation, auch bei allen menschlichen Beziehungsproblemen, die zentrale Frage.


Nach dem Willen Gottes handeln: Das kann bedeuten, das 4., das sog. Elterngebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden, zu achten, also etwa für die alten Eltern zu sorgen, und überhaupt die besondere Verantwortung wahrzunehmen, die man für Familienmitglieder hat. Und öfters haben auch zu mir schon Gemeindeglieder gesagt: Ihre erste Verantwortung haben Sie für Ihre eigene Familie!


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Nach dem Willen Gottes handeln: Das kann aber auch bedeuten: Wenn zum Beispiel ein Vater einen fremdenfeindlichen oder frauenfeindlichen Witz reißen sollte – daß Tochter oder Sohn ihm widersprechen und sagen: Das, was du da sagst, das ist böse und gegen Gottes Willen! - Nicht die Familie ist heilig, sondern Gottes Wille ist heilig.


III


Und jetzt – so können wir uns vorstellen – ist Jesus nicht in dem Haus in Kapernaum, sondern in diesem Haus, dieser Kapelle, hier in diesem Gottesdienst, und er sieht jede und jeden von uns an und sagt: Du – gleichgültig ob geschieden oder single, Witwe oder Mitglied einer scheinbar sogenannten „intakten“ Familie: Ihr seid meine Familie. Ihr hier: Sehr unterschiedlich in euren politischen Ansichten, beruflichen Tätigkeiten, unterschiedlich auch in euren Glaubensweisen - ihr seid meine Mutter, meine Schwestern, meine Brüder. Ihr seid meine Familie.


IV


Was sind die Kennzeichen dieser Familie? Ich nenne einige.


Erstens und vor allem: Sie fragt nach Gottes Willen und sucht ihn in die Tat umzusetzen. Dabei ist klar: Das ist oft nicht einfach zu beantworten. Der Maßstab ist immer: Die Liebe zu Gott und Menschen. „Liebe Gott - und dann tu‘, was du willst“ , so hat der Kirchenvater Augustinus gesagt.


Was aus Liebe zu Gott und Menschen geschieht, das ist Gottes Wille. Aber was das konkret bedeutet, ist manchmal nicht so einfach zu erkennen, es erfordert oft Beten, Nachdenken, Gesprächsaustausch, Beratung mit Anderen.


Zweitens: Die Familienmitglieder setzen sich füreinander ein. Dabei sind Ländergrenzen oder andere Grenzen zweitrangig, oft sogar hinderlich für Gottes Willen. Wir sind ja eine weltweite Familie mit Geschwistern in jedem Land der Erde. So wie das eben derzeit in Köln so vielfarbig zum Ausdruck kommt. - Um noch einmal einen Kirchenvater zu zitieren: Diognet von Alexandria schrieb um das Jahr 200: „Für einen Christen ist jedes fremde Land ein Vaterland und jedes Vaterland ein fremdes Land.“


Also: Geschwister haben wir in Kamerun und Tschtschenien, bei den Maoris und auf Feuerland, unser eigentliches Zuhause ist im Himmel, und wir besuchen uns in unseren Wohnungen, aber auch in Krankenhäusern, Gefängnissen, Heimen... Und wir vergessen nie: Die nach Menschenmaßstäben „geringsten“ unserer Geschwister - das sind die, in denen Jesus uns nach seinen Worten am ehesten selbst begegnet (Matth. 25, 31ff.).

Weiter: Diese Familie singt gern, das braucht nicht schön zu sein, soll aber von Herzen kommen.




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Weiter: Man feiert gern zusammen: In den Wohnungen, im Gemeindehaus, in der Kirche. Dort lädt der Erstgeborene dieser Familie oft und gern selbst zum Feiern ein – zu dem Mahl, von dem niemand ausgeschlossen ist, der als Sünder zu ihm

kommen will, dem Mahl der Hoffnung und Vorfreude auf eine vollkommene, nicht mehr von Schuld und Abschiednehmenmüssen getrübte Gemeinschaft mit Gott und miteinander.


Denn, das ist das letzte Kennzeichen, das ich nennen will: Diese Familie lebt in einer unbändigen Hoffnung, in der Gewißheit: Wir gehen einer guten, einer heiteren Zukunft entgegen, einem Leben, in dem Gott die Tränen von den Augen Aller abwischen wird und der Tod nicht mehr sein wird noch Leid noch Geschrei noch Schmerz (Offb. 21).


Darum: Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unserm Bruder und Heiland. Amen.