Gottesdienst am 17. Sonntag nach Trinitatis, 12. Oktober 2003

 

Lieder:

Gott des Himmels und der Erden...445, 1.2.4.5

O Herr, nimm unsre Schuld...235

Lobt Gott den Herrn, ihr Heiden all...293

In dir ist Freude...398

Wenn wir jetzt weitergehen...168, 4 - 6

 

Psalm 63 (Nr. 729)

Lesung: Jesaja 49, 1-6

 

Predigttext: Matthäus 15, 21 – 28

 

 

Und Jesus ging weg von dort (nämlich vom See Genezareth) und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon (hoch im Norden, in heidnischem Gebiet, im heutigen Libanon).

Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.

Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Stell sie zufrieden, denn sie schreit uns nach.

Er antwortete aber und sprach:  Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.

Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir!

Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.

Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.

Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

 

 

 

 

 

 

 

Liebe Gemeinde,

 

eine Mutter und ihre Tochter. Von dem Ehemann und Vater hören wir nichts, auch nichts von Geschwistern.Vielleicht war diese Mutter alleinerziehend? Hatte ganz allein die Not ihrer Tochter zu tragen?

 

Sie hat möglicherweise von Jesus als einem Wunderheiler gehört, auch hat sich herumgesprochen, daß er mit seinen Jüngern in ihre Gegend kommt. Die Frau sucht und findet ihn und fängt sofort an zu rufen:Herr, hilf mir! Sie schreit ihre Not laut heraus.

 

2

 

Ich stieß vor einiger Zeit auf einen Vers aus dem „Macbeth“ von Shakespeare, der folgendermaßen lautet:

 

Gib Worte deinem Schmerz.

Gram, der nicht spricht,

raunt ins gebeugte Herz,

bis dass es bricht.

 

Shakespeare spricht hier ja etwas sehr Wichtiges aus: Wir sollen Schmerz und Leiden nicht in uns verkapseln und vergraben, sondern äußern, aussprechen, herauslassen vermittels Worten, die vielleicht sogar von lindernden, lösenden Tränen begleitet werden. Denn: „Gram, der nicht spricht, raunt ins gebeugte Herz, bis dass es bricht..“

(oder, nach der Übersetzung von Dorothea Thieck: „Gram, der nicht spricht, presst das beladne Herz, bis dass es bricht“).

 

Dem dient ja übrigens auch die uralte orientalischeTradition der Klageweiber, die durch ihr lautes Klagen und Weinen dem vielleicht stummen, versteinerten Schmerz trauernder Angehöriger zum  Ausbruch verhelfen. Oder bei uns gibt es den Beruf der sog. Stimmtherapeuten, die leidenden Menschen helfen, irgendeinen tief in ihnen vergrabenen Kummer, irgendein Trauma durch Worte und Tränen zu äußern, jahre-, jahrzehntelang unterdrückte Klagen und Schreie endlich loszuwerden.

 

Die Frau in unserer Geschichte ist uns Vorbild zunächst schon darin, daß sie uns schlichtweg zeigt: Was uns  belastet und beschwert, bedrückt und  bedrängt, das soll heraus, soll geäußert werden...Und: Die Frau zeigt uns auch, wer der richtige Adressat hierfür ist. Sie tut das, was manche Liedanfänge unseres Gesangbuches sagen: Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott erhör mein Rufen...Oder: ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ, ich bitt, erhör mein Klagen...

 

Die Frau überschreitet in ihrer Not alle Grenzen des Anstands: Denn das war absolut ungehörig, und ist bis heute im Orient undenkbar, daß eine Frau hinter Männern herschreit. Diese Frau überschreitet in ihrem Leid auch religiöse Grenzen: Als Kanaanäerin verehrte auch sie sicher die dort angebeteten Götzen Baal und Ischtar. Stattdessen ruft sie Jesus voll Vertrauen und Ehrfurcht mit messianischen  Hoheitstiteln an: Herr, du Sohn Davids, erbarme dich über mich!

 

Über mich! sagt sie. Und später noch einmal: Herr, hilf mir! Das können auch manche von uns  hier unmittelbar verstehen, wie sehr das Leid eines Angehörigen, gar eines Kindes, zum eigenen Leid werden kann.

 

                                                                        II

 

Jesus reagiert zunächst garnicht, er sagt kein Wort. Anders die Jünger. Ihnen ist dieser Auftritt peinlich. Tu irgendetwas, sagen sie, damit wir sie los sind.

 

Das kennen wir: Einen Menschen abschieben, abwimmeln, ihn „abspeisen“, ihm ein

 

3

 

Geldstück geben, im Vorbeigehen irgendeine scheinbar mitfühlende Bemerkung machen, Hauptsache, man ist ihn los, diesen lästigen Bittsteller.

 

Das tut Jesus nicht. Sondern etwas anscheinend Schlimmeres: Er verweigert der Frau jede Hilfe: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israels gesandt“, sagt er zu den Jüngern gewandt. Er sagt ihnen damit:  Ich bin als Erlöser und Retter zu unserm Volk Israel gesandt – aber nicht zu irgendwelchen Ausländern.

 

Wie schroff und  abweisend reagiert Jesus! Paßt das zu unserm Jesusbild? Aber: Paßt das zu unserm Jesusbild, daß er voller Zorn die Tempelhändler und Geschäftemacher geißelte? Daß er manchmal wie ein schonungsloser Gerichtsprophet auftrat? Oder passen uns seine radikalen Worte: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Geld! Entweder- oder! Oder daß er sagte: Tut Gutes denen, die euch Übles taten. Bittet für die, die euch beleidigt und verletzt haben. Nein, Jesus paßt in  kein Bild, das wir uns von ihm machen.

 

Nach dieser Abfuhr müßte die Frau eigentlich verschwinden. Und nun kommt das Merkwürdige: Die Frau tut das Gegenteil. Sie nähert sich Jesus, wirft sich ihm  vor die Füße und schreit das elementarste aller Gebete heraus: Herr, hilf mir!

 

Ich las: In einer Frauengruppe hat eine Teilnehmerin einmal diese Szene gemalt: Sie hat die Frau wie einen großen Stolperstein auf dem Weg vor Jesus gemalt.

 

Und nun  geht Jesus nicht über sie hinweg, geht auch nicht an ihr vorbei, sondern bleibt vor ihr stehen, und was er jetzt sagt, das kann man nur als Fußtritt bezeichnen: „Es ist  nicht recht, daß man den Kindern das Brot wegnimmt und es stattdessen Hunden vorwirft“.

 

Hunde: Das war ein ganz scheußliches, beleidigendes Schimpfwort für „Heiden“.

 

Aber – ist so etwas nicht auch eine Erfahrung gerade von glaubenden, betenden Menschen: Gott kann ihnen als das krasse Gegenteil von Liebe erscheinen, als grausam, bösartig, heimtückisch (vgl. z.B. 2. Mose 4, 24; Jes. 38, 13;  Hebr. 10, 31).                                                                     

 

 

III

 

Denkbar wären jetzt diese Reaktionen der Frau: Entweder sie würde aggressiv werden, ihn mit einigen unflätigen Schimpfworten bedenken – oder aber sie würde wie ein  geprügelter Hund weggehen, mit Enttäuschung, Verzweiflung, vielleicht auch Verachtung im  Herzen, oder aber auch in dumpfer Schicksalsergebenheit, so wie manche Menschen schon einmal sagen oder denken: Ich habe gebetet. Gott hat nicht erhört. Er war taub für meine Bitten. Vielleicht gibt es ihn  garnicht. Jedenfalls: Ich muß mich in  mein Schicksal ergeben.

 

 

4

 

 

Die Frau tut weder das eine noch das andere, sie greift das Schimpfwort von den Hunden auf und verändert es wunderbar, indem sie sagt: Ja - du hast recht, Herr, das Brot ist für die Kinder da – und  doch: Fällt nicht immer noch etwas ab für die Hunde unterm Tisch...? Sie argumentiert sozusagen nicht von der Sparsamkeit, sondern von der Überfülle her, sie sagt: Gott gibt seinem Volk Israel so reichlich, daß von dieser Überfülle, diesem Überfluß auch noch etwas uns, den Heiden, den Ausländern, denen

am Rande, denen unten... zugute kommt.

 

Es gibt Ausleger, die sagen: Durch diese Antwort der Frau sei Jesus erstmalig etwas klargeworden, was den Verlauf der Menschheitsgeschichte entscheidend verändert hat: Daß Gott ihn eben nicht nur als Messias für Israel, sondern auch  als Erlöser für alle Heidenvölker gesandt habe. Daß er das Brot des Lebens nicht nur für sein Volk,  sondern für alle Völker sein solle.

 

Jedenfalls gibt Jesus der Frau recht mit Worten, die voller Staunen sind: Frau, dein Glaube ist gross. Dir geschehe,wie du willst. Jesus gehorcht ihrem Willen. Er tut, was sie so inständig erhofft. Der Dämon muß ihre Tochter verlassen, die Beziehung zwischen Mutter und Tochter wird heil.

 

Ich las eine Predigt, in der wird die Ichstärke, die Durchsetzungsfähigkeit dieser Frau gepriesen. Nun gut, aber man muß sehen,wo sie ihre Durchsetzungsfähigkeit zeigt: Niedergeworfen zu Jesu Füßen.

 

Zu Jesu Füßen liegend sagt sie wie Jakob in seinem Kampf gegen Gott am Fluß Jabbok: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!

 

Martin Luther hat in einer Predigt über diesen gewaltigen Text den ungeheuren Satz gewagt: Im Gebet ist der Mensch mächtiger als Gott. Er sagt damit: Wir Menschen können Gottes Herz bewegen. Wir können Gott dazu bringen, Dinge zu tun, die er ohne unser Bitten nicht tun würde.

 

Ich stelle mir vor, die Frau blickt uns jetzt an und sagt zu uns: Geh zu Jesus, sag ihm alles, was dich bedrängt, bitte ihn demütig und von ganzem Herzen, bitte ihn voller Glauben an seine Wundermacht, bitte ihn  für einen Menschen, der dir am Herzen liegt. Traue ihm zu, daß ihm nichts unmöglich ist. Vielleicht sagt er auch zu dir:  Dein Glaube hat dir geholfen. Dir geschehe, wie du willst. Und dann wird dich große Freude und Dankbarkeit erfüllen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre dein

Herz und all deine Sinne in ihm, dem Herrn und  Erlöser. Amen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weitere Predigten von Pfarrer Martin Quaas, Essen-Rellinghausen, finden Sie unter www.martin-quaas.de/predigten.