„...damit er sich aller erbarme“.

Gottesdienst im Weiglehaus am „Iraelsonntag“, 27. Juli 2008


Wochenspruch: Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat. Psalm 32, 12


Lieder:


Gott ist gegenwärtig...EKG 128,1.2.5.6

Dankt, dankt dem Herrn...466, 1.9.10

Mir ist Erbarmung widerfahren...277, 1-3


Schriftlesung: Lukas 19, 41 -48


Predigt über Römer 11, 25 – 32:


Paulus schreibt an die Heidenchristen in Rom und an uns:


Ich will euch dieses Geheimnis nicht vorenthalten, damit ihr euch selbst nicht für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange, bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist;

und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59, 20; Jeremia 31, 33): „Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob.

Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.“

Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.

Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams,

so sind jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.



„...damit er sich aller erbarme“. Das ist also Beweggrund und Ziel alles Handelns Gottes: Am Ziel wird seine Barmherzigkeit, sein Erbarmen das letzte Wort haben, wird Gott uns zeigen, welch einen Sinn alles Leid hatte, wird die Tränen endgültig von allen Augen abwischen und alles in Freude verwandeln; das Erbarmen, die Liebe Gottes wird alles erfüllen.


So wie es die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz in einem Gedicht beschreibt:


Glauben Sie, fragte man mich ,

an ein Leben nach dem Tode?

Und ich antwortete: Ja.

Aber dann wusste ich keine Auskunft zu geben,

wie das aussehen sollte dort.

Ich wußte nur eins:

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Keine Hierarchie auf goldenen Stühlen sitzend,

kein Niedersturz verdammter Seelen.

Nur,

nur Liebe, freigewordene,

niemals aufgezehrte, mich überflutned.

Mehr also, fragen die Frager,

erwarten Sie nicht nach dem Tode?

Und ich antworte:

Weniger nicht.


Gewiss: Vorher kommt noch das Jüngste Gericht. Und ich denke, dass wir alle uns dann

auch gehörig schämen werden über all das, was dann wieder offenbar wird auch aus unserm Leben. Aber das Letzte, das Ziel: Das ist das Erbarmen, die Liebe – und wir jedenfalls sollen und dürfen für jeden, wirklich jeden hoffen, dass sie auch ihm und ihr gilt.


Woher ich das weiss? Weil die Evangelien und in seinen Briefen der Völkerapostel Paulus dies ja jubelnd und dankbar auf alle Weisen aussprechen. Und vor allem sagen sie auch: Nicht erst am Ziel, sondern jetzt schon gilt dieses Erbarmen Gottes jedem Menschen und wendet sich ihm zu. Es hat einen Namen und eine Gestalt: Den Namen und die Gestalt Jesu. Es wendet sich uns zu uns in herrlichen tröstenden Worten: den Worten und Gleichnissen Jesu. Es geschieht in den Wunderheilungen Jesu. Und vollends finden wir es unter dem Kreuz Jesu, wo wir mit Schrecken und Entzücken zugleich erkennen: Was ich verdient habe – das hat er getragen. Und nun darf ich im Vertrauen auf die Liebe Gottes leben, die mir und meinem Nächsten gilt in Zeit und Ewigkeit.


Dem strengen und rechtgläubigen Pharisäer Paulus ist dieses Erbarmen Gottes überwältigend begegnet, als Christus ihm in gleissendem Lichtglanz vor Damaskus erschien. In diesem Licht verbrannte ihm all sein vorheriges reiches theologisches Wissen, und es geschah gleichsam eine Auferweckung aus dem Tode an ihm: Er wollte seither nichts mehr wissen als Christus den Gekreuzigten (1. Kor.2,2; Phil.3,7ff.). Und was hat er dann für Strapazen auf sich genommen, um die frohe Botschaft vom Erbarmen Gottes in Jesus zu verkündigen. Jemand hat ausgerechnet: Über 30.000 km ist er gewandert, geritten, auf Schiffen gefahren – rastlos und unter unsäglichen Mühen, Leiden und ständigen Anfeindungen war er unterwegs, erfüllt von der Freude über die Erlösung in Jesus dem Christus, die allen Menschen gilt, und die er darum überall verkündigen musste!

Ich denke: Wohl jeder hier kann das auch von sich sagen: Mit Jesus habe ich das

Beste für mein Leben gefunden. Ohne ihn – und das heisst zugleich: Ohne die Gemeinde, die Bibel, ohne die Gottesdienste und das Gebet zu ihm kann ich mir mein Leben nicht vorstellen.


Wenn uns aber Jesus so wichtig ist – ja was möchten wir lieber, als dass möglichst viele, ja möglichst alle Menschen Jesus kennenlernen und in ihm die Liebe Gottes finden!


So jedenfalls war's bei Paulus. Und nun erfuhr er bei seinem Tun etwas, das ihn ständig aufs tiefste schmerzte: Ausgerechnet bei seinen jüdischen Landsleuten fand das Evangelium von Jesus dem Messias so gut wie überhaupt keinen Glauben! Ach, wenn sie doch Christus erkennen würden! schreibt er in Römer 9. Alles würde ich dafür geben – sogar dies, selbst auf ewig von ihm getrennt zu sein!

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Das können wir wohl kaum nachempfinden. Oder erfüllt es Sie mit tiefer Traurigkeit, dass die wenigsten Juden heute in Jesus ihren Messias finden? Wir begegnen ja bei uns auch kaum einem Juden, einer Jüdin. Wir wissen, warum. Sie wurden in Europa vor zwei Generationen ja fast alle umgebracht.


Darum haben wir für das, was für Paulus ein unbegreifliches Rätsel war, jedenfalls doch eine Erklärung: Wir Christen haben so ziemlich alles dafür getan, um ihnen den Glauben an Jesus den Erlöser unmöglich zu machen. Wir haben das Kreuz sozusagen am Kopfende angefasst und als Schwert benutzt. Statt ein Zeichen der Erlösung und des Segens für sie zu sein, war es für sie fast immer ganz im Gegenteil ein Schreckenszeichen. Völlig überlesen wurde offenbar während der gesamten

Kirchengeschichte, was Gott selbst in Sacharja 2 Vers 6 zu seinem erwählten Volk sagt: „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an“ - der fügt also Gott selbst Schmerz zu, macht Gott blind – blind vor Zorn...


Oder zu Abraham und seinem Samen sagt er (1. Mose 12, 3) : Ich will segnen, die dich segnen und verfluchen, die dich verfluchen: Wer dem Samen Abrahams zum Fluch wird – wie in der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ -, der zieht den Fluch Gottes auf sich selbst.


Und auch in unserm Text sagt Paulus ja klipp und klar: „Im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen...denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“.


Gott, heisst das im Klartext – und das ist der


1. Predigtpunkt: Gott bleibt seinem erwählten Volk treu

Gott bleibt treu, auch wenn wir treulos sind.


Gott steht zu seinen Zusagen und bleibt allen seinen Verheissungen treu, auch wenn wir wenig an ihre Erfüllung glauben.


Gott bleibt seinen Geschöpfen treu, die wir so brutal behandeln, ich nenne nur die Stichworte: „Nutztierproduktion“ oder Walfang. Gott bleibt der Erde treu, deren Lebenszusammenhänge wir so schädigen.


Er bleibt dem Volk Israel - auch heute – ebenso treu wie uns, der Christenheit, der Kirche. Er hält Israel die Treue, obwohl so viele in diesem Volk offenbar ebenso halsstarrig und kleingläubig sind wie wir; ebenso schuldig werden wie wir. Denn es ist tiefe und schwere Schuld, wie die israelische Politik mit dem palästinensischen Volk umgeht. Und dennoch: Gott hält an der Erwählung Israels fest. Es bleibt sein Volk, das er sich aus allen Völkern zum Eigentum erwählt hat. Und wir Christen werden durch Jesus mit zu seinem erwählten Volk berufen.


Allerdings muss man auch sagen: Erwählung hieß für Israel in der Geschichte fast immer – wie es der Theologe Helmut Gollwitzer einmal im Anklang an Jesaja 53 formuliert hat: „zur Schlachtbank geführt werden“. Und zwar von wem? Von uns, ihren Geschwistern, von uns, den Christen.


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Diesen Ausdruck, den Paulus hier im Text gebraucht: „Feinde im Blick auf das Evangelium“, den haben Christen oft in verfälschtem Sinn gebraucht, sie meinten damit: Die Juden sind die Feinde Gottes, sind, wie ein abscheulicher, oft gebrauchter Ausdruck hiess: Die „Gottesmörder“. Aber Paulus schreibt hier: Sie sind Feinde des Evangeliums – um euretwillen!


Denn – 2. Punkt: Gott verstockt einen Teil seines erwählten Volkes


Gott selber, schreibt Paulus, hindert sein Volk daran, Jesus als Messias zu erkennen. Einige zwar erkennen in Jesus ihren Messias, auch heute, sie nennen sich „messianische Juden“ - in den Gemeinde Rellinghausen und Bredeney haben wir seit Jahrzehnten eine

Partnerschaft mit einem messianisch-jüdischen Heim, dem Eben Ezer Heim in Haifa -: sie sagen: Gerade ihr Judesein kommt darin zur Vollendung, dass sie in dem Juden Jesus auch Israels Erlöser erkennen.


Aber: Die übergroße Mehrheit der Juden, sagt Paulus, soll noch nicht erkennen, wer Jesus in Wahrheit ist: Weil nämlich das Erbarmen Gottes in der Person Jesu Christi erst in der ganzen Völkerwelt verkündigt und bekannt werden muss, erst alle Völker und Länder der Erde erreichen muss. Und dann, schreibt Paulus, wird „aus Zion der Erlöser“ auch für Israel kommen und wird ganz Israel errettet werden.


Ich habe irgendwo gelesen: Es war erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass man erstmalig sagen konnte: Jetzt gibt es kein Land der Erde mehr, in dem nicht Jesus Christus als Herr und Heiland der Welt bekannt wird. Allerdings: Wie weit sind wir in allen Vökern davon entfernt, uns auch entsprechend zu verhalten! Muss man nicht ehrlicherweise sogar sagen: Ausgerechnet die, die sich „christlich“ nennen, zählen zu den gewalttätigsten und habgierigsten Völkern der Erde?! Aber die einzig sinnvolle Reaktion auf solch eine bittere Wahrheit kann ja nur sein , dass wir mit einem bekannten Gebet sagen:


Herr, erwecke deine Kirche - und fange bei mir an.

Herr, lass Frieden und Gotteserkenntnis überall auf Erden zunehmen – und fange bei mir an.


Und, auch dies ist wahr: Wir mögen vielleicht keinen Fortschritt erkennen, kein Wachstum von Frieden und Gerechtigkeit – und doch sagt Jesus uns zu - und ich bin felsenfest von der Wahrheit seiner Zusage überzeugt: Das Reich Gottes wächst und wächst, unbermerkt und ohne dass das statistisch feststellbar wäre - es wächst und wächst, es gibt ein ständiges Wachstum an Liebe, an Trost, an Gerechtigkeit und Frieden...bis alles erfüllt

und das Reich Gottes vollendet ist.


Denn dies – 3. Punkt – bleibt das Ziel, das ist Gottes Wirken, so undurchschaubar es für uns ist:


..damit er sich aller erbarme.


Alle, ganz Israel, die gesamte Schöpfung, wird das Erbarmen Gottes erfahren, wird Gott in all seiner unbegreiflichen göttlichenLiebe schauen.


Diesem Ziel dient Gottes Erwählen und Verstocken – und einmal werden wir das alles

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erkennen. Jetzt noch nicht. Jetzt sollen wir die Rätsel und Geheimnisse als das

lassen, was sie sind: Unbegreiflich für uns bleibend; jetzt ist im Grunde nur Eines wichtig: Dass jedem von uns persönlich das Erbarmen Gottes, das sich uns in Jesus zuwendet, wichtig wird, dass das bei jedem von uns lebendiger und gelebter Glaube bleibt: Eigentlich hatte ich Gottes Zorn verdient, aber Gott schenkt mir, weil Jesus auch mir zugute am Kreuz gestorben ist, um seinetwillen sein Erbarmen – jetzt schon, täglich, und einmal in der Ewigkeit, wenn wir mit unserem ganzen Leben – mit all seinen Gedanken und Empfindungen, Worten und Werken - vor Gottes Thron treten werden.


Darum beten wir:

Gott, der du reich bist an Erbarmen,

reiss dein Erbarmen nicht von mir,

und führe durch den Tod mich Armen

durch meines Heilands Tod zu dir;

da bin ich ewig recht erfreut

und rühme die Barmherzigkeit. Amen.