Predigt über Römer 14, 7 – 9,
8. November 1998 (Pfarrer Martin Quaas)
Denn unser keiner lebt sich
selber, und keiner stirbt sich selber.
Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.
Denn dazu ist Christus
gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr sei.
Liebe Gemeinde!
„Wer bin ich?“
I
Dietrich Bonhoeffer hat 1944 im Gefängnis ein Gedicht mit diesem Titel
verfaßt. Er schreibt darin dem Sinn nach:
Meine Aufseher und andere Menschen sagen von mir, ich sei immer stark,
heiter, gelassen, trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und
stolz...
Aber von mir selbst weiß ich ja, daß ich schwach bin, unruhig, krank,
wie ein Vogel im Käfig, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Handeln...Wer
bin ich? Der oder jener? Heute dieser –
morgen ein anderer?
Und dann mündet sein Gedicht in die Worte: Wer ich auch bin – du weißt
es, dein bin ich, o Gott.
Wer bin ich? Wer sind wir
Menschen? Kennen wir uns selbst? Nehmen wir nur mal Fotos, die uns zeigen, wie
wir vor – sagen wir – 2o Jahren aussahen. Schon kommen erstaunte Ausrufe:
„Was? Das soll ich gewesen sein?“ –
Oder: „ So sahst Du mal aus?“
Und: Zu was sind wir Menschen fähig!
Zu welch abgrundtiefer Bosheit und
Grausamkeit. Jemand hat einmal mit Recht gesagt: Ohne Divinität, also
ohne Bindung an Gott, gibt es keine Humanität, also keine Menschlichkeit,
sondern ohne sie verkommt der Mensch zur Bestialität. Beispiele für solche
Bestialität gibt’s im Übermaß aus der Geschichte unseres Volkes in den letzten
Jahrzehnten, aber auch aus der Gegenwart.
Andererseits: Es gibt eben auch
Beispiele unfaßlicher Tapferkeit und Lebenshingabe.
Wie heuchlerisch und falsch können Menschen sein – aber auch: wie
empfindsam und zartfühlend und gütig.
Wer sind wir? „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding, wer kann
es ergründen?“ ruft der Prophet Jeremia einmal aus (Jer. 17, 9).
„Dein bin ich, o Gott“, sagt Dietrich Bonhoeffer. Und der Apostel Paulus
schreibt: „Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“.
II
Wir sind des Herrn! Ihm gehören wir. Wir sind dem größten König zu
eigen!
Aber – wer von uns kann das schon von ganzem Herzen so sagen!
Wieviel Gewicht haben stattdessen heutzutage die Worte, die mit Ich-
oder mit Selbst- anfangen:
Selbsterfahrung, Ichstärke, Selbstfindung, Selbstverwirklichung...
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„Du hast einen Anspruch auf das und dies...“.“Gönn‘ dir
etwas...“
„Du darfst!“. „Nimm dir die Freiheit...“. „Mach dir selber ein Geschenk...“
Wieviel ach so wohlmeinende Sprüche hat die Werbung für uns.
Alles soll sich um uns selbst drehen, unseren Genuß, unseren Spaß.
Nur: Wo führt das hin?
Wir amüsieren uns zu Tode. Man feiert bis zum Überdruß. Je mehr wir
konsumieren, desto leerer werden wir innerlich.
III
Wie schön ist es stattdessen, hören zu
dürfen: „Leben wir, so leben wir
dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir leben oder
sterben, so sind wir dem Herrn zu
eigen.“
Wir gehören also gar nicht uns selbst. Wir gehören im Leben und im
Sterben ihm: dem Herrn Jesus, der uns liebt!
Das gilt für jeden von uns -
für jeden Menschen überhaupt - was
Friedrich von
Bodelschwingh einmal sagte: „Es geht kein Mensch über die Erde, den
Gott nicht liebt“.
Woher weiß er das? Aus der Bibel. Da hören wir von dem großen Gott, der
nicht ohne uns sein will. Der die Gemeinschaft mit uns sucht. Der schließlich
ein Mensch wird wie wir, einer, der sich in unsere Hände gibt bis zum Tode am
Kreuz, und der zu Weihnachten sagt: Da bin ich. Und nun könnt ihr mit mir
machen, was ihr wollt. Ich will nur eins: Euch liebhaben. Und auch noch, als
die Menschen ihn ans Kreuz schlagen, hält er daran fest. Tiefer kann Gott nicht
gehen. Größer kann keine Liebe sein.
Wie gut ist es, sich von diesem göttlichen Du, sich von Jesus begleitet
und geleitet zu wissen, ihn als Gesprächspartner zu haben, mit ihm auf Du und
Du zu stehen, ihm viel zuzutrauen, ihm
sein Leben anvertrauen.
Er sagt: Ich kann dich gebrauchen. Ich brauche dich.
Selbstverwirklichung, Selbsterfahrung, Ichstärke und Selbstfindung: Im
Grunde steckt in diesen Worten ja etwas sehr Wichtiges und Gutes. Aber erst von
Jesus her bekommen sie einen guten Klang.
Selbstverwirklichung: Jeder von uns hat Gaben. Vielfältige und reiche
Gaben. Wir sollen sie entfalten, sie nutzen. Mit den Gaben, die Gott mir
gegeben hat – wieviel Gutes kann ich damit verwirklichen. „Servitium Dei summa
libertas“, lautet ein alter Spruch. Zu deutsch: Im Dienste Jesu stehen bedeutet höchste Freiheit“, schönstmögliche Selbstverwirklichung.
Selbsterfahrung: Die beste Selbsterfahrung dürfte doch die sein, wenn
einer sich erfährt als getragen und hindurchgeführt durch das Labyrinth des
Lebens.
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Und Selbstfindung : In dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn
Christus finden wir uns selbst, so klar und befreiend wie nirgendwo sonst.
Nicht wahr: In allen bei der Kreuzigung Jesu Beteiligten kann ich doch
etwas von mir selbst wiederfinden: Vollmundig und dann doch feige wie Petrus,
mich aus allem heraushalten wollend wie Pilatus, sensationslüstern gaffend wie
die Menge, dumpf Befehlen, Vorschriften folgend wie die Soldaten, den Schwachen, Wehrlosen
verspottend, aus Gründen vermeintlicher Rechtgläubigkeit handelnd, wie die
geistlichen Amtsträger...Hier unter dem Kreuz wird uns jede Illusion über uns
Menschen genommen. Wir müssen sagen: So bin ich, kann ich jedenfalls sein
- nicht gut, sondern zu allem Bösen
geneigt.
Aber im Evangelium wird mir nun zugleich das Unfaßliche gesagt: Und so
wie du bist, bist und bleibst du nun geliebt. Jesus hat am Kreuz, was du
verdient hast, getragen und Gott
schenkt dir um Jesu willen Vergebung – jetzt schon und einmal in der Ewigkeit,
wenn du mit deinem ganzen Leben vor seinem Thron stehst. Du darfst dich dann
auf Jesus berufen.
Und nun brauche ich dann
ja meine Schuld und meine Fehler
nicht mehr zu vertuschen oder mir selbst zu vergeben suchen .Wir können
eingestehen, was ist. Das gilt für unser persönliches Leben wie für die
Geschichte unseres Volkes. Jesus, in dem uns Gottes Liebe erreicht, der kann
das Böse in uns überwinden, die Schuldenlast von mir wegnehmen, Selbsthaß in
Selbstliebe verwandeln und das Nein zu mir selber in Selbstbejahung umwandeln.
IV
„Wir sind des Herrn!“ Ich
darf darauf vertrauen: Auch wenn ich sterbe, bleibe ich sein eigen. Unser Leben
hat nun nicht mehr nur ein Ende,
sondern es hat ein Ziel: Jesus in der Herrlichkeit Gottes. Er hat gesagt:
Siehe, ich mache alles neu. (Offb.21, 5). Und für die Menschen, denen Leid
zugefügt wurde, gilt: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen...
(Offb.21,4).
„Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr sei“.
Ich denke an die Ballade von Conrad Ferdinand Meyer: „Die Füße im
Feuer“. „Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm. Der Donner
rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß, springt ab und pocht ans Tor und
lärmt...“ So beginnt sie. Ein reitender Bote des französischen Königs sucht im
Schloß eine Unterkunft für die Nacht und erhält sie. Dann sieht er im Saal: Das
Porträt eines Hugenotten im Harnisch und daneben das Porträt seiner Frau...Und
er erinnert sich: Wenige Jahre zuvor. Man machte Jagd auf führende Hugenotten.
Und er war in diesem Schloß gewesen, hatte von der Frau die Auskunft erpressen
wollen, wo ihr Mann sich verborgen habe, hatte die nackten Füße der Frau ins
brennende Feuer gezwungen. Sie hatte geschwiegen.
Das alles tritt ihm des Nachts
in seiner Schlafkammer wieder vor Augen. Er horcht auf jedes kleinste
Geräusch...Wird der Hausherr kommen, um Vergeltung zu üben? Beim Morgengrauen
tritt der Schloßherr durch die Tapetentür in die Kammer. Das gestern noch
dunkelbraune Haar ist über Nacht
ergraut. Er verabschiedet ihn. Der Reiter sagt zum Abschied: “Ihr seid ein
kluger Mann und voll Besonnenheit und wißt, daß ich dem größten König eigen
bin. Lebt wohl! Auf Nimmerwiedersehn!“ Der andre spricht: „Du sagts! Dem
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größten König eigen! Heut‘ ward sein Dienst mir schwer...Gemordet hast
du teuflisch mir mein Weib! Und lebst!...Mein ist die Rache, spricht der Herr.“
Leben wir, so leben wir dem Herrn: Dem Herrn, der das Wunder bewirken
kann, daß ein Mensch auf Vergeltung und Rache verzichtet. Dem Herrn, der das
letzte Urteil sprechen wird und dem wir verantwortlich sind in Zeit und
Ewigkeit.
Der Theologe und Seelsorger Helmut Gollwitzer hat einmal in einer
Thesenreihe (Krummes Holz - aufrechter
Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, 1970, S.382) so formuliert, was das
bedeutet: „Wir sind des Herrn“: :
“Nichts ist gleichgültig. Ich bin Gott nicht gleichgültig.
Alles, was wir tun, hat unendliche Perspektiven, - Folgen bis in die
Ewigkeit; es hört nichts auf.
Es bleibt nichts vergessen. Es kommt alles noch einmal zur Sprache.
Wir kommen aus Licht und gehen in Licht.
Wir sind geliebter, als wir wissen.
Wir werden an unvernünftig hohen Maßstäben gemessen.
Es geht nichts verloren.
Wir sind nicht allein.
Wir sind nie allein.
Dieses Leben ist ungeheuer wichtig.
Die Welt ist herrlich – die Welt ist schrecklich.
Es kann mir nichts geschehen – Ich bin in größter Gefahr.
Es lohnt sich zu leben.“
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen
und Sinne in Christus Jesus unserm Herrn. Amen.