Predigt über Römer 8, 31b – 39 (Silvester 2003)

 

Begrüssung:  Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit (Hebr. 13, 8)

 

Was ist das eigentlich: Zeit?

 

Kein Mensch kann das sagen. Die Zeit ist ein Geheimnis wie alles Wesentliche im Leben. Wir können nur sagen: Wir empfinden die Zeit: als hell oder düster, sich stauend oder verrinnend, leer oder erfüllt, offen oder verschlossen – und heute zu Silvester empfinden wir die Zeit gleichsam als eine Schwelle oder als eine halbgeöffnete Tür, vor der wir stehen.

 

Der Beter des 102. Psalms sagt zu Gott dem Ewigen: Unsere Tage vergehen wie ein Rauch und wirwelken dahin wie die Gräser...Du aber, Gott, bleibst ewiglich und  dein Name bleibt von Geschlecht zu Geschlecht.  Du hast vorzeiten die Erde geschaffen und das Weltall ist deiner Hände Werk. Es wird  vergehen, du aber bleibst,  es wird veralten wie ein Gewand, wie ein Kleid wirst du es wechseln und es wird verwandelt werden. Du aber bleibst, wie du bist, und  deine Jahre nehmen kein  Ende.

 

Wir wenden uns ihm zu, der die Zeit geschaffen hat und in dessen Händen auch unsere Lebenszeit liegt. Wir singen von Lied 58 die Strophen 1 – 7.

 

Wir sprechen die Verse des 121. Psalms 121 im Wechsel (Nr. 753, S. 1182)

Gebet: Karl Barth, Gebete, S.22

 

Lesung:

 

Zweimal werden im Ersten Testament, der Hebräischen Bibel, die Gebote Gottes überliefert. Das erste Mal in 2. Mose 20, am Berg Sinai, als Worte des Bundesschlusses zwischen Gott und seinem Volk; und  das zweite Mal in  5. Mose Kapitel 5 gleichsam als wegweisende Worte, als Israel am Ende der Wüstenwanderung am Jordanfluß angelangt ist und sich darauf vorbereitet, ins unbekannte Land der Verheißung hineinzugehen, also gleichsam an einer Schwelle angelangt ist. Da erinnert Mose das Volk an die Weisungen Gottes.

 

5. Mose 5 Vers 1 – 21

 

Lasst uns als Antwort auf das Gehörte das Lied 59 singen.

 

Predigt:

 

Liebe Gemeinde!

 

Die für den heutigen Silvestergottesdienst als Predigttext vorgeschlagenen Bibelverse sind  Ziel- und  Höhepunkt des 1. Hauptteils des Römerbriefs. In  den Kapiteln vorher hat Paulus Sätze über den an die Macht von Sünde und Tod versklavten Menschen  und den davon erlösenden Gott geschrieben, die – wie der

Theologe Karl Barth einmal gesagt hat – das Tiefste enthalten, was je über Gott und uns Menschen geschrieben wurde. Und all das gelangt nun in  Römer 8 in  den Versen 31 bis 39 zu einem triumphalen Höhepunkt .

 

2

 

Paulus schreibt:

 

Ist Gott für uns, wer kann dann noch gegen uns sein?

Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der uns  freispricht.

Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der für uns gestorben ist, ja vielmehr,  der auch vom Tode auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.

Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Kälte oder Gefahr oder das Schwert?

Wie geschrieben steht (Psalm 44, 23): „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind  geachtet wie Schlachtschafe.“

Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat.

Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,

weder Hohes noch Tiefes noch irgendein Geschöpf uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus zu finden ist, unserm Herrn.

 

In Christus Jesus. Da also ist sie zu finden und zu haben, woanders nicht.

 

Wenn wir auf das Weltgeschehen sehen in diesem zuendegehenden Jahr: Da war - wie immer - furchtbar viel Schreckliches und Schlimmes. Von Gottes Liebe erkenne ich da nichts, eher das Gegenteil. „Die Weltgeschichte“ – so hat Goethe einmal formuliert – „die Weltgeschichte ist ein  Mischmasch aus Irrtum und Gewalt“.

 

Die Natur? Man kann in ihr eine unfaßliche Phantasie Gottes des Schöpfers erkennen und  auch eine alles Begreifen übersteigende Weisheit ahnen – aber Liebe Gottes? In  der Natur scheint stattdessen der Kampf ums Dasein zu herrschen, das sog. Recht des Stärkeren.

 

Und auch wenn Sie auf Ihren persönlichen Lebenslauf sehen, auf all das, was Sie und Ihre Angehörigen in diesem Jahr erlebt haben: Vielleicht können Sie sehr dankbar von Bewahrung sprechen, vielleicht sogar auch von reichem Segen über Ihrem Leben – aber: Bei anderen gab’s eben auch Krankheiten, den Tod eines geliebten Menschen, schwere Sorgen, Trennungen, Mißerfolge... Manchmal scheint es sogar, als sei Gott absolut ungerecht: Gottlose Schurken bleiben unbehelligt,  während fromme und herzensgute Menschen es knüppeldicke kriegen...Jedenfalls: Liebe Gottes ist am Lebenslauf eines Menschen kaum abzulesen.

 

Paulus sagt: Allein in Jesus Christus ist sie zu finden, die Liebe Gottes. Hier sprudelt sie gleichsam wie eine verschüttete Quelle aus der Erde hervor. Bei Jesus finden wir eine Liebe, die uns hilft, mitten in allem Schweren, Undurchschaubaren bestehen zu können, ja, wie Paulus hier - wörtlich übersetzt - sagt: In all dem einen großen Sieg erringen zu können, d.h. nicht wir, wohl aber die Liebe Christi in uns und für uns.

Paulus sagt das aus eigener Glaubenserfahrung heraus. Und er zeigt es uns im Blick auf die drei großen Lebensbereiche, die uns  an frohem, erlöstem Leben hindern

 

3

 

wollen:

-         die Schuld

-         das Leid

-         und der Einfluß und die Gewalt unsichtbarer Mächte über uns.

 

I

 

Die Schuld.

 

Manche sagen ja, der heutige Mensch hätte kein Sündenbewusstsein mehr. Aber das glaube ich nicht. Man mag zwar lange Zeit in Eile und  Ablenkung oberflächlich dahinleben, aber an einem Abend wie heute steigen dann eben doch Gedanken auf wie diese: Wieder ein Jahr meines Lebens dahingegangen, zerronnen wie Wasser zwischen den Fingern. Was bleibt? Was ist wichtig? Und, wenn ich zurückdenke: Da habe ich einen Menschen gekränkt, ihn vielleicht bitter enttäuscht – manchmal kommt so etwas ja erst Jahre später wieder ans Tageslicht, es war verdrängt worden...Mit einemmal ist es wieder da: Man ist schuldig geworden an einem Menschen. Und mehr Menschen, als wir meinen, quälen sich mit schlimmen Schuldgefühlen bzw. suchen sie zu betäuben durch alle möglichen Arten von „tranquillizern“. Schuld, Sünde ist ja nicht nur, was ich Schlimmes getan habe, sondern auch, was ich einem schuldig geblieben bin. Wir alle bleiben Liebe schuldig, Liebe zu Gott, zu andern Menschen, die uns  anvertraut sind, manchmal auch zu uns selbst, es gibt auch ein zu geringschätziges Denken von sich selbst.

 

Und in all das hinein sagt nun der Apostel Paulus: Aber Gott, der nun wirklich allen Grund hätte, gegen dich zu sein, zornig auf dich zu sein oder mindestens : enttäuscht zu sein von dir...der ist nicht mehr gegen dich. Sondern er ist ganz und gar für dich! Gott, der alles von dir weiß und  sieht, auch deine unerkannte Sünde (Psalm 90, 8): Er beschuldigt dich nicht. Er klagt dich  nicht an. Er verurteilt und  verdammt dich nicht.

 

Dazu hat er seinen einzigen geliebten Sohn „dahingegeben“, hat ihn uns boshaften Menschen ausgeliefert, damit Der das Urteil über unsere Schuld an unserer Stelle trüge und wir stattdessen hören dürften: Du bist freigesprochen – in Zeit und  Ewigkeit freigesprochen! Dieser Freispruch gilt dir, weil Jesus ihn dir erkämpft hat! Er gilt dir absolut unverdient – ebenso unverdient wie deinem Nächsten, und  zwar jedem!

 

Dann aber können wir zwar noch das Verhalten eines Menschen beurteilen und auch verurteilen, aber nie mehr einen Menschen verdammen oder ihm die Menschenwürde absprechen – auch einem Verbrecher oder Diktator nicht mehr.

 

Jeder Mensch ist nun in gleicher Weise ein begnadigter, ein  geliebter Sünder – jetzt schon und einmal, wenn wir in der Ewigkeit sind und alles ans Licht kommt, bis hin zu jedem Gedanken, den wir je dachten, jedem Wort, das wir je sprachen oder auch zu sprechen versäumten. Jesus vertritt uns auch dann, schreibt Paulus, und  das bedeutet Beides: Er tritt fürbittend bei Gott für uns ein und er tritt an unsere Stelle. Er 

 

4

 

sagt dann zu Gott: Sieh Martin Quaas an wie du mich, deinen geliebten Sohn, ansiehst und sieh mich an, wie du eigentlich ihn ansehen  müsstest. Und dann wird Gott mich um seinetwillen in einem unfaßlichen Erbarmen in die Arme nehmen. Und jeder kann nun auch seinen Namen einsetzen oder den Namen von  einem, den er für besonders böse und verachtenswert hält.

 

                                                                       II

 

Und nun , nach der Schuld, nennt Paulus den zweiten großen Bereich menschlichen Lebens, in dem Menschen sich so oft von Gott alleingelassen fühlen: das Leid. Trübsal nennt er, also tiefes Betrübtsein, Schwermut, Depression, abgründige Traurigkeit. Und Angst: Wie sehr kann Angst einen Menschen überfallen und  lähmen: Angst eines allein lebenden Menschen des Nachts, Angst: Wie wird es sein, wenn ich nicht mehr für mich sorgen  kann..oder: Wenn ich sterben muß...Oder: Angst einer Mutter, eines Vaters um die Kinder, ihre Zukunft...Hunger nennt er, etwas, was wir hier zur Zeit nicht kennen, Christen in vielen Teilen der Welt aber wohl. Jede Stunde sterben etwa 600 Kinder an Hunger und Unterernährung. Und Kälte: Nicht nur im körperlichen, sondern auch in seelischem Sinn, Menschen  können ja innerlich frieren oder eiskalt sein. Und die Gewalt nennt er...Und er sagt: Gott bewahrt vor all diesem vielfältigen Leid nicht ...aber mitten in  all dem können Menschen einen Sieg darüber erringen...Denn die Liebe Christi ist stärker, sie vermag viel, sie kann ungeahnte Tragkraft geben, sie kann bewirken,  dass Menschen es schaffen, Böses mit Vergebung zu beantworten, sie kann bewirken, dass Menschen  mitten in schwerem Leid Geborgenheit erfahren und sich schwere Lebenssituationen sogar lebensbereichernd auf sie auswirken können.

 

                                                                       III

 

Und dann, in einer nochmaligen gewaltigen Steigerung, greift der Apostel nun  drittens noch aus in uns unbekannte und unsichtbare Bereiche und  Wirklichkeiten in der Schöpfung und sagt: Ich bin gewiß, daß auch der Tod uns nicht mehr von Gottes Liebe trennen kann. Wir werden  dann nicht  in finsteres Chaos stürzen, wir dürfen hoffen, dann getragen zu werden, ins Licht. Auch das Leben mit seinen

Gefährdungen, Irrtümern, Verführungen kann uns  nicht mehr von der Liebe Gottes trennen, auch die himmlischen Mächte, die Engel nicht mehr, auch die Dämonen nicht mehr, die Dämonen, die in der Spaßgesellschaft unbemerkt so viel Macht und Einfluß ausüben. Nichts Himmelhohes noch abgründig Tiefes, die Gegenwart mit ihren Lasten und Sorgen nicht und die ungewisse Zukunft – also alles Geschehen im  kommenden Jahr -  nicht und auch nicht irgendwelche Kreaturen, die es sonst noch geben mag im unendlich-endlichen Kosmos. Die Liebe Gottes, in Christus zu finden, behält über all das den Sieg und  das letzte Wort. Und darum: Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unserm Herrn. Amen.

 

Wir singen das Lied: ist Gott für mich, so trete... 351, 1 – 4 + 7

 

Feier des Heiligen  Mahls (dabei Lied 351 Str. 9ff.)

 

Als Fürbitten: Lied 58, 6 – 15  - Segen (Psalm 121, 8f.)

 

 

 

 




Weitere Predigten von Pfarrer Martin Quaas, Essen-Rellinghausen, finden Sie unter www.martin-quaas.de/predigten.