Predigt zu Silvester 1999 (Pfarrer Martin Quaas)

 

Wir beten: Ewigkeit – in die Zeit leuchte hell herein, das uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine. (EG 572, 4)

 

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Die Älteren unter uns werden vielleicht vor Jahrzehnten mal hin und wieder an den heutigen Abend gedacht haben unter der Frage: Ob du das wohl jemals erleben wirst, diesen Übergang ins Jahr 2000? Und nun ist dieser Abend da und er wird  vorübergehen und – wer weiß – im Rückblick wird er vielleicht gar nicht zu den wichtigen Ereignissen unseres Lebens gehören. Andere Ereignisse unseres Lebens werden uns viel wichtiger vorkommen und vom heutigen Abend wird vielleicht nur der Gottesdienst wichtig bleiben.

 

Denn: Wie gut, daß wir auch heute Gottesdienst feiern dürfen!

 

Vor einiger Zeit sagte mir einmal ein Mann zu meiner großen Überraschung und auch Freude: Die Gottesdienste sind für mich die Höhepunkte des Lebens!

 

In der Tat: Hier hören wir ja von dem, der  einzig und allein bleibt. Hier begegnet uns der Ewige, der Gott, vor dem 1000 Jahre sind wie der gestern vergangene Tag. Hier hören wir von seiner Treue und davon, daß er uns im Fluge unserer Zeiten gnädig zugewandt bleibt. Hier empfangen wir das Wichtigste für unser Leben überhaupt: Die Zusage der Gnade und Vergebung Gottes angesichts unserer unzähligen erkannten und unerkannten Sünden. Hier bekommen wir Kraft,  auch unsererseits vergeben zu können. Hier werden wir beschenkt mit den Gaben Gottes, die unserem Leben allein bleibenden Sinn und Wert geben: Mit Glauben und Hoffnung und Liebe.

 

Hier hören wir davon,  daß wir in eine Gemeinschaft hineingehören, die die Jahrhunderte und Jahrtausende überdauert: Die Gemeinschaft des Volkes Gottes. Die Gemeinschaft mit all denen, die in Jahrhunderten vor uns das gleiche Wort Gottes hörten wie wir, das Heilige Mahl feierten wie wir, das gleiche Glaubensbekenntnis sprachen, in ihrer Lebenssituation den guten Kampf des Glaubens kämpften.

                                                                      

Und nun stellen wir uns einmal vor, wir hätten solch eine Zeitmaschine, wie es sie in utopischen Romanen gibt: Man geht hinein, drückt auf einen Knopf und befindet sich in einer gewünschten anderen Zeit. Stellen wir die Uhr unserer Zeitmaschine um -   sagen wir -  200 Jahre zurück.

 

1799. Ein kleines Barockkirchlein stand damals an dieser Stelle, gerade 25 Jahre vorher war es erbaut worden – einzelne Bauernhöfe gab es hier herum, Feldwege, Viehweiden, und die Menschen sangen damals zu Silvester vielleicht das gleiche Paul - Gerhardt – Lied wie wir eben: „Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern...“

 

Oder – gehen wir 1000 Jahre zurück: Das Jahr 999. Die Fundamente des Turms von St. Lambertus drüben stammen aus dieser Zeit, es gab also hier schon eine Kirche, die Menschen gingen zum Gottesdienst. Soweit man weiß, gab es damals große

 

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Endzeitängste, Weltuntergangsbefürchtungen: Das war für die damalige Jahrtausendwende wohl das Kennzeichnende, während für unsere Jahrtausendwende das Hauptkennzeichen wohl der Versuch der Kommerzialisierung, der „Vermarktung“ des sog. Millenniums ist. Und: Noch einmal 1000 Jahre zurück, 99 nach Christus, und jetzt in Palästina: Da sind die Ereignisse, die die Mitte unseres Glaubens bilden, noch ganz neu, die Evangelien sind gerade erst  geschrieben, die Erinnerung an den Wanderprediger am See Genezareth, das Kind von Bethlehem, den für uns gekreuzigten und auferstandenen Heiland ist noch ganz frisch: Auch damals schon bekannten Menschen sich zu dem gleichen Glauben wie wir! 

                                                                      

Und, wenn wir dann noch einmal 1000 Jahre zurück gehen: Dann erst sind wir bei den Anfängen des Volkes, zu dem auch wir gehören, bei den Ursprüngen dessen, was unseren Glauben kennzeichnet. Von diesen Ursprüngen und von dieser Zeit erzählt der für den heutigen Silvesterabend vorgeschlagene Predigttext. Ich lese aus 2. Mose 13 die Verse 17 und 18 und 21 bis 22:

 

Als nun der Pharao das Volk hatte ziehen lassen, führte sie Gott nicht den Weg durch das Land der Philister, der am nächsten war; denn Gott dachte, es könnte das Volk gereuen, wenn sie Kämpfe vor sich sähen, und sie könnten wieder nach Ägypten umkehren.

 

Darum ließ er das Volk einen Umweg machen und führte es durch die Wüste zum Schilfmeer. Und Israel zog wohlgeordnet aus Ägyptenland.

 

Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.

 

Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

                                                                      

Das, liebe Gemeinde, ist, meine ich, das Allerwichtigste, was wir heute überhaupt hören können! Die Zusage Gottes: Niemals, niemals weiche ich von euch, meinem Volk. Und niemals, weder bei Tag noch bei Nacht, weder im Leben noch im Tod bin ich fern von Dir, sondern bleibe dir nahe - und zwar in Liebe und Treue, einer Liebe und Treue, die sich allerdings auch in Zorn und Gericht äußern können! Denn, wenn wir auf dieses Jahrhundert zurückblicken: Unser deutsches Volk ist ja doch in besonderer Weise an den schrecklichen Katastrophen dieses zuendegehenden Jahrhunderts beteiligt. Die entsetzlichsten: Der Versuch, Gottes Volk Israel auszurotten, und die Weltkriege, gingen von uns aus. Können wir dankbar genug dafür sein, daß Gott sich uns trotz allem wieder so freundlich zugewandt hat?

                                                                      

Und nun zurück zum Anfang unseres Textes: Gott führt sein Volk nicht den direkten Weg. Er kennt ihre Furcht vor möglichen Gefahren und Widerständen, er weiß, wie gern sie in eine vermeintlich bessere Vergangenheit zurück wollen. Sondern er führt sie einen Umweg, durch Wüste, durch unbewohntes Land. Er kennt auch unsere  Ängstlichkeit,  weiß, wie wenig wagemutig, zuversichtlich, vertrauensvoll wir sind im Blick auf die kommende Zeit, wie manche von uns geneigt sind, auch die kirchliche Vergangenheit zu verklären und rückwärtsgewandt zu denken. Gott weiß,

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was er uns als Gemeinde und jedem von uns persönlich zumuten kann. Er wird uns, so hoffe ich, auch im kommenden Jahr nicht mehr zumuten als wir zu leisten und zu tragen vermögen. So wie er hier seinem Volk den direkten, vielleicht zu schwierigen, zu sehr beängstigenden Weg erspart -  so vielleicht auch uns, er führt uns in seiner großen Gnade lieber einen längeren, einen Umweg. Und das heißt doch: Wir können auch im Rückblick von den vermeintlichen Umwegen oder gar Abwegen und Irrwegen  unseres Lebens positiv denken, können auch sie im Licht der gnädigen Führung Gottes sehen.  

 

Das Zweite, was wir hören: Unser Gott ist kein seßhafter Gott. Er hat keine feste Behausung, sondern wohnt allenfalls in Zelten. Er ruft und führt immer aufs neue heraus aus Gebundenheiten, Absicherungen und Abhängigkeiten, er führt durch die Wüste, er führt einem von ihm verheißenen Ziel entgegen. So auch bei uns. Jeder Gottesdienst ist ein Ruf und eine Führung heraus aus Gebundenheiten und Abhängigkeiten, Gott will in jedem Gottesdienst befreien von der Last der Schuld, von Bedrückungen durch Ängste und Sorgen, will befreien von Habsucht oder Geiz, und er weckt in jedem Gottesdienst in uns die Hoffnung auf das herrliche Ziel, dem er uns, und sein Volk, ja dem er das ganze Universum entgegenführt: Das verheißene gelobte Land, das himmlische Jerusalem, das Leben im Licht, das Leben in der Ewigkeit, in der wir Gott einmal sehen werden, wie Er ist (1. Joh.3,2). Und: Er selbst geht uns während unseres irdischen Weges durch die Wüste voran. Er gibt uns Orientierung, damit wir, wie es hier heißt, „Tag und Nacht wandern können“, also nicht stehenbleiben oder gar aufgeben, sondern unterwegs bleiben, in Bewegung bleiben.

 

Und das Dritte, was wir hören, ist, wie er uns führt: In einer Wolken - und einer Feuersäule.

 

Vor einiger Zeit sagte eine junge Frau: Insgeheim sehnen wir Menschen uns nach einem eindeutigen Richtungsweiser, nach einem, der uns klipp und klar sagt: Da genau geht’s lang. Das sollst du tun, denken, sagen.

 

Und viele nutzen ja diesen Herdentrieb, der in uns steckt, aus, bauen sich als Führer, Gurus, Leitbilder vor uns auf und sagen: Folge mir, und zwar blind und bedingungslos und ohne eigenes Denken.  So, liebe Gemeinde, führt Gott nicht. In einer „Wolkensäule“ geht er uns tags voraus, hören wir. Das heißt: Verhüllt, verborgen, wir können seine liebevolle Führung nicht eindeutig und sonnenklar erkennen, wir können ihn selbst nicht sehen, sondern wir sollen ihm vertrauen, ihm folgen, indem wir dem Wort der Bibel folgen, in dem er sich uns in verhüllter Weise offenbart.

 

Und nachts, im Dunkeln, wenn die finsteren oder auch bösen Gedanken kommen und der Groll gegen einen Menschen wächst oder gar der Haß, oder der Lebensüberdruß und das Gefühl, daß alles sinnlos oder zu schwer zu tragen sei – da vertreibt Gott nicht das Dunkel, wohl aber leuchtet er als Feuersäule im Dunkel, das

heißt: Er gibt uns Orientierung im Wort der Bibel, das ein Licht auf unserem Wege ist, er  kann uns erleuchten und neu begeistern durch das Feuer des heiligen Geistes.

Aufs kürzeste gesagt: Gottes Wort, wie es schließlich ein Mensch, der Mensch Jesus geworden ist: Das ist Wolken- und Feuersäule für uns auf unserm Weg durch die

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Zeit, auf unserer Wüstenwanderung während unseres irdischen Lebens. In ihm sagt  Gott uns seine Führung, seine Treue, seine Vergebung, seine unablässige Nähe,

seine Liebe zu. Ist das genug für unser Leben, damit wir es – mitten in allen Geheimnissen und trotz aller Rätsel – sinnvoll gestalten und tapfer und zukunftsgerichtet führen können? Ja, das ist genug.

 

Denn das weiß ich und sehe es im Rückblick auf das vergangene Jahr: Wesentlich war in meinem Leben in Familie und Gemeinde das Vertrauen in Gottes Führung.

Und ich sehe beschämt im Rückblick, wie oft ich kleinmütig war und dieser Führung nicht vertraut habe, und ich erkenne in der Rückschau, wie überaus nachsichtig er uns und diese Gemeinde in Rellinghausen geführt hat.

 

Und weiter: Das Wesentliche war auch im vergangenen Jahr die Wegweisung durch die biblischen Worte in Losungen oder Predigttexten und die Kraft, die in ihnen steckt, die Kraft des Heiligen Geistes, mit der diese Worte uns beschenken. Welch ein Schatz ist uns mit der Bibel geschenkt, den wir aber auch heben sollen! In ihr bekommen wir Orientierung darüber, was wesentlich und was unwichtig fürs Leben ist. Diese Worte können sehr beglücken und tiefe Freude auslösen.

 

Und so wird es auch im kommenden Jahr und Jahrtausend  sein: Das Wichtige wird das Vertrauen in Gottes gnädige, geduldige Führung sein, die Hinwendung zu den Worten der heiligen Schrift, die uns (etwa in den Geboten) klar sagen, was wir zu tun und was wir zu lassen haben, und das Gebet, das Gespräch mit Gott in Bitte, Fürbitte und Klage – aber auch vor allem im Dank.

 

Wie froh und dankbar können wir sein, daß wir Nahrung und Kleidung und Wohnung haben - und wohl jeder von uns doch auch eine sinnvolle Beschäftigung hat. Unendlich dankbar können wir sein, wenn wir bis heute bewahrt worden sind vor Unfall  und schlimmem Todesfall in der Familie. Wie unendlich dankbar können wir sein, wenn wir Menschen haben, die uns liebhaben und die wir liebhaben.

 

Wenn wir das haben: Wohnung, Kleidung, Nahrung, sinnvolles Tun und liebe Menschen, dann haben wir genug, übergenug. Mehr brauchen wir nicht, alles darüber hinaus ist eigentlich Ballast, der uns eher hindert, unserem Gott nachzufolgen, der arm wurde, um uns durch seine Armut reich zu machen (2.Kor.8,9),  und der ohne feste Behausung unterwegs ist. Diesen Gott haben wir in unserer Überflußgesellschaft zu verkündigen, damit wir frei werden von Habsucht und uns um mehr Gerechtigkeit kümmern.

 

Wir können auch für das neue Jahr erbitten, „daß uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine“; daß wir erkennen, was wirklich wichtig ist und was überflüssiger, hinderlicher Ballast.

 

Das Wesentliche ist die Liebe, jeder von uns kann sie in Fülle geschenkt bekommen. Sie hat einen Namen, den Namen Jesus. Er schenkt sich uns im Wort, im  Heiligen Mahl, er begegnet uns in den „geringsten seiner Brüder und Schwestern“ (Mt.25). Er zeigt uns, wie hoch geachtet wir bei Gott sind. Von ihm singen wir jetzt: „Freuet euch, ihr Christen alle...“ (EG 34). Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in ihm, dem Herrn unseres Lebens, dem Herrn der Kirche, dem Herrn über das All.  Amen. 

 

 

 

 

 




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