Gottesdienst zum Vaterunser  (Sonntag Septuagesimae, 27. Januar 2002)

 

Orgel: 6. Sonate von Felix Mendelssohn-Bartholdy (Vater unser im Himmelreich...)

 

Lieder: Dir, dir, o Höchster will ich singen...328, 1-3

            Vater unser im Himmelreich...( 344, Luthers Nachdichtung des Vaterunser)

           Unsern Ausgang segne Gott...163

 

Psalm 92   

 

Lesung: 1. Mose 32, 23-32

 

Predigt:

 

 

Liebe Gemeinde,

 

in Lukas 11 wird erzählt: Die Jünger sehen, wie Jesus betet. Daraufhin sagt einer zu ihm: Herr, lehre uns beten. Und er sagt ihnen das Vaterunser, das Gebet der Gebete – sozusagen die Mutter aller Gebete.

 

Das Gebet, das die Welt umspannt“: So hat jemand einmal das Vaterunser bezeichnet (H. Thielicke) . In doppeltem Sinn gilt das: Es umspannt, umfaßt, benennt alle Dinge in der ganzen Welt. Und es umspannt, verbindet, vereint alle Menschen in der ganzen Welt miteinander.

 

Jesus sagt in der Anrede ja nicht: Mein Vater, sondern: Unser Vater! An wen kann man bei dieser Anrede nicht alles denken!  Er ist der himmlische Vater von bin Laden wie von Bush, er ist der himmlische Vater von Menschen, die uns ganz nahe stehen wie auch von  Menschen, deren Aussehen oder Verhalten befremdend für uns ist . Und jeder, der das „Vaterunser“ betet, weiß von vornherein, daß er nicht allein ist, sondern das gleiche Gebet wie er beten seine Geschwister in Patagonien und bei den Eskimos, die Hereros und die Tschetschenen. Millionenfach wird das Vaterunser tagtäglich gebetet. Und wo überall! In zahllosen Gottesdiensten beten Menschen – auch Menschen unterschiedlichster Glaubensüberzeugungen -  es miteinander, aber auch in großer Einsamkeit und Not wird es von Einzelnen gebetet – welche Bedeutung kann da etwa die Bitte: Dein Wille geschehe! Oder: Erlöse uns von dem Bösen! bekommen! Und auch: Welche Hoffnung und Zuversicht kann der Lobpreis auslösen, in den das Gebet mündet: Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit! Oder bei jeder Beerdigung beten Menschen das Vaterunser: Wie wichtig kann da etwa die Bitte werden: Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern! Sehr bedacht können die

 

 

 

 

 

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einzelnen Bitten gebetet werden ,aber natürlich auch gedankenlos dahingeplappert.

 

Darum hat Luther in seiner anschaulich-drastischen Sprache das „Vaterunser“ einmal den „ärmsten Märtyrer“ genannt. Er meinte damit, das Vaterunser müsse unendlich viel erleiden, weil es oft so heruntergeleiert werde.

 

Wir wollen seine sieben Bitten jetzt ein wenig bedenken. Zuerst aber eine Behauptung: Wetten, daß..kein Mensch auf der ganzen Welt ein Bittgebet so angefangen hätte oder anfangen würde wie es Jesus hier tut? Wir alle würden bei irgendeiner Bitte für uns oder für andere Menschen anfangen. Jesus aber

beginnt mit einem dreifachen „Dein“! Er richtet zuerst und von Anfang  an unseren Blick weg von uns selbst und hin zu Gott.

 

Dein Name werde geheiligt! Gott hat also einen Namen. Der unfaßliche, unbegreifliche,unergründliche Gott will von uns Menschen mit Namen angeredet werden! Aber auf keinen Fall sollen wir seinen Namen 

mißbrauchen, d.h. Gott für unsere Zwecke einspannen,so wie das Menschen, insbesondere Militärs, Ideologen, Politiker bis in unsere Tage tun. Sondern wir sollen den geheimnisvollen Namen  Gottes – Jahwe, ich bin – heilig halten, das heißt, immer in Vertrauen und Ehrfurcht zugleich mit Gott sprechen. Voller Vertrauen zu Gott unserm Vater! Aber auch in Ehrfurcht vor dem heiligen Gott! In Ehrfurcht vor dem Gott, von dem es – wohlgemerkt – im Neuen Testament

(Hebr. 10,31) ! - heißt: „Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“, und  zugleich in innigem Vertrauen zu dem Gott, dessen Herz, wie Jesus im Gleichnis sagt (Lk. 15), voll sehnsüchtiger Liebe zu seinen Kindern ist, seien sie von ihm weggelaufen oder immer daheimgeblieben.      

 

Dein Reich komme! Napoleon soll auf der Insel St. Helena, wohin er verbannt war, gesagt haben: Die Weltreiche kommen und gehen, nur das Reich dieses armen Nazareners bleibt. Sein Reich, das Reich Gottes, das mit ihm in die Völkerwelt kam,  hat keine Grenzen, weder räumlich noch zeitlich. Das Reich Gottes, so schreibt Paulus einmal, „ist Gerechtigkeit, Friede, Liebe, Freundlichkeit, Sanftmut, Freude...“(Röm. 14, 17, vgl. Gal. 5,22). Wo immer das bei uns und durch uns verwirklicht wird, da breitet sich Gottes Reich aus.

 

Dein Wille geschehe! So wie er im Himmel ganz selbstverständlich geschieht und befolgt wird – so, geradeso soll er auch bei uns unten auf der Erde geschehen! Das finde ich manchmal die schwerste Bitte. Wir kennen unseren Eigenwillen, unseren Eigensinn. Wie schwer, aber auch wie wohltuend ist es, nach Gottes Willen zu fragen, seinem guten Willen, seiner Führung auch in düsteren Stunden  zu vertrauen, so wie Jesus sich dazu in Gethsemane durchrang. Aber noch einmal: Wer kann das schon! Wir sind ja keine Engel.

 

 

 

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Und nun, kennzeichend für den Realismus der Bibel: die erste und die wichtigste Bitte für unser Leben als Menschen miteinander ist die um Brot. Unser tägliches Brot gib uns heute!

 

Gott, gib du es uns. Wir sollen also die Nahrung und alles, was zum Leben nötig ist, als Geschenk aus Gottes Hand empfangen, darum das Tischgebet als unverzichtbarer Bestandteil christlichen Lebens. Und es ist ja wirklich so: Daß wir hier leben und nicht irgendwo, wo – wie in Palästina – über die Hälfte aller Menschen arbeitslos ist, oder in Gegenden, wo kaum Eßbares zu finden ist  - das ist nicht unser Verdienst, sondern unverdientes Geschenk Gottes, für das wir nicht dankbar genug sein können. Aber merkwürdig: Je mehr einer hat, desto mehr er will, nie schweigen seine Klagen still..

 

Gib uns unser Brot für heute! Morgen ist morgen. Da wird Gott auf’s neue sorgen. Jesus sagt in der Bergpredigt (Mt.6): Nehmt euch an euren Mitgeschöpfen, Vögeln und  Blumen, ein Beispiel. Die tun das Ihre, nicht das, was eine Nummer zu groß für sie ist. Nur ihr Menschen wollt auch noch die Rolle Gottes mit übernehmen.

 

Vertrau doch der Fürsorge deines Vaters, der dich kennt und liebt.

 

Gib uns unser Brot! Alle unsere Mitgeschwister haben das gleiche Recht auf Nahrung wie wir. Ich finde, hier wird das Vaterunser eminent politisch. Es stellt uns die Frage: Bringen wir unsere Mitgeschwister durch die Art unseres Wirtschaftens vielleicht um ihr tägliches Brot?

 

Und darum folgt nicht zufällig sofort die Bitte: Vergib uns unsere Schuld! Nicht nur an der ungerechten Verteilung der Güter in der Welt sind wir mit beteiligt, jeder von uns wird täglich schuldig an Menschen, oder bleibt ihnen jedenfalls Aufmerksamkeit und Hochachtung schuldig. Und wieviel bleiben wir Gott schuldig! Aber – das ist zum Staunen – Gott behaftet uns nicht bei unserer Schuld, legt uns nicht darauf fest. Wir können belastende Schuld abladen. Wir können sie Jesus, dem Sündenbock der Welt, anlasten. Und wer das tut, wird nie mehr einen anderen Menschen, oder auch ein ganzes Volk, zum  Sündenbock abstempeln. Er wird seinerseits vergeben. Darum ist die fünfte Vaterunser-Bitte die einzige, in der unsere Aktivität ausdrücklich eingefordert wird: wie auch wir vergeben unseren Schuldigern! Gottes und unser Vergeben hängen untrennbar miteinander zusammen.

 

Die vorletzte der sieben Bitten, die bete ich oft besonders intensiv:  Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen! Gott ist ja nicht einfach ein „lieber Gott“ oder „guter Gott“, er kann Menschen auch selbst in Versuchung „führen“ – wie den Abraham (1. Mose 22)! Kann er auch ein ganzes Volk in Versuchung führen und, wenn es Gott verleugnet, verderben lassen? Wie froh können wir sein, wenn er uns vor bösen Versuchungen bewahrt!

 

Und er allein kann auch von dem Bösen erlösen, das Menschen mit brutaler Schrecklichkeit überfällt oder aber attraktiv-lockend getarnt uns Leben verspricht und in die Fänge kriegen will. Gott allein kann von der Macht des Teufels erlösen.  Und er hat es getan.

 

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Die meisten Bibelwissenschaftlr nehmen an, daß das Vaterunser, wie Jesus es die Jünger gelehrt hat, ursprünglich mit dieser Bitte endete, daß Jesus selbst es also so

gebetet hat, daß es geradezu mit einem Aufschrei endete: Gott, erlöse uns von dem Bösen!

 

Jesus kannte die Macht des Bösen. Ich glaube: Er durchschaute und erlitt sie wie niemand je sonst. Aber weil er sie am Kreuz nicht nur erlitt, sondern auch in unbegreiflich reiner und starker Liebe überwand und zerstörte – und weil er uns, als Gott ihn von den Toten auferweckte, zum Erlöser geworden ist – darum brauchen wir nun nicht mit der Bitte um Erlösung von dem Bösen enden, sondern können ganz erleichtert, ja geradezu triumphierend in den Lobpreis münden: Dein ist das Reich!

 

Das Reich, das kein Ende hat, und in dem Gerechtigkeit, Friede, Geduld, Vergebung und Freude zu finden sind. Dein  ist die Kraft!  Die Kraft zu einem Leben in Liebe und Besonnenheit. Dein ist die Herrlichkeit in Ewigkeit! Deinem österlichen Licht, deiner Klarheit gehen wir entgegen.

 

Amen! Laut Luther das wichtigste Gebetswort überhaupt, weil es Ausdruck eines  ganz unbändigen Vertrauens ist: Ich bin  gewiß, was ich jetzt erbeten habe, das hast du gehört, wirst du erhören, das wirst du dir zu Herzen nehmen und deine Antwort darauf wird von Herzen kommen.

 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen!