Predigt über Jesaja 52, 7 - 10

4. Advent, 23. Dezember 2007, Tersteegenkirche Düsseldorf


Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!

Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt.

Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.

Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.


Liebe Schwestern und Brüder,


bei Martin Luther kann man immer wieder höchst einprägsame und dichte Formulierungen über den christlichen Glauben finden. Eine dieser Formulierungen, die sich mir seit den Tagen des Theologiestudiums eingeprägt hat, lautet: Gott handelt gern "sub contrario", auf deutsch: Unter dem Anschein des Gegenteils. In der Schwäche zeigt sich seine Stärke, in der Niedrigkeit offenbart er seine Hoheit, in scheinbarer Torheit seine Weisheit, im ganz Unscheinbaren leuchtet seine Herrlichkeit auf. Wo wir nicht hindenken, da finden wir die großen Gedanken Gottes.


Für die Art, wie wir unser Leben deuten und führen, könnte das bedeuten: Gerade da, wo wir nichts oder nichts mehr erwarten, kann er große Überraschungen für uns bereithalten. Und vielleicht gilt sogar: Gerade da, wo wir meinen, Gott hört nicht, lässt mich allein, scheint ganz gleichgültig, ja unbarmherzig und grausam zu sein - gerade da könnte es sein, dass sich uns seine Aufmerksamkeit und Barmherzigkeit in besonders segensreichem Maße zuwendet.


I


Wie komme ich zu diesen Gedanken? Weil es sich gerade so in unserem Predigttext zeigt!


Was sind das für herrliche Worte voller Jubel und Freude, die der Prophet hier singt, was für herrliche Zusagen Gottes an sein Volk. Und unüberbietbar groß die Aussage am Schluß: Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes!


Aber wo ist das denn überhaupt zu sehen? fragen wir sofort. Das stimmt doch alles garnicht! Heute nicht - und erst recht nicht damals, als es der Prophet verkündigte.


Die Realität sah so aus: Jerusalem zerstört, und vor allem: Der Tempel nur noch Schutt und Asche: Ein offenbares Zeichen dafür, dass der Gott Israels ohnmächtig war bzw. - schlimmer noch - sein Volk dem Verderben anheimgegeben hatte. Sie sind Heimatvertriebene, verschleppt nach Babylon, ganz unten, am Nullpunkt.


Erschütternd gibt der 137. Psalm ihre Situation wieder:


An den Wassern zu Babylon saßen wir und weinten,/

wenn wir an Zion gedachten.

Unsere Harfen hängten wir / an die Weiden dort im Lande.

Denn die uns gefangen hielten, / befahlen uns zu singen

und in unserem Weinen fröhlich zu tun: / "Singt uns ein Lied von Zion!"

Wie könnten wir des Herrn Lied singen / in fremdem Lande!

2

Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte.

Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, / wenn ich deiner nicht mehr gedenke

wenn ich nicht lasse Jerusalem / meine höchste Freude sein...!


Welche Trauer in diesen Versen - und zugleich: Welche Sehnsucht nach der Heimat, genauer: Sehnscuht nach Gott!


II


Und mitten in diese verzweifelte Verlassenheit hinein ruft der Prophet Worte überwänglichen Jubels! Ein himmelhohes Jauchzen stimmt er an für zu Tode Betrübte!


Wie kommt er dazu? Er hat etwas gesehen. Gott hat ihn etwas sehen lassen.Und was Gott selbst ihm gezeigt hat, das teilt er seinen Geschwistern mit: Seht! ruft er. Durch die arabische Wüste ziehen die Versklavten und Heimatvertriebenen hindurch, Jerusalem, der Heimat entgegen - und Jahwe selbst zieht ihnen voran.


Und vor dem Ziel dann: Seht die Freudenboten! Sie eilen dem Zug der Heimkehrenden voraus. Sie rufen Jerusalem von weitem schon zu: Unser Gott kommt! Er kommt, und mit ihm der schalom, der Friede!


Und die Wächter dort auf den zerstörten rauchgeschwärzten Mauern Jerusalems, die Wächter gegen die fast verhungerten Plünderer - die Wächter nehmen die Freuden- und Friedensbotschaft auf und dann - weil ja kaum noch Menschen da sind, die die Heimkehrenden begrüssen könnten - dann werden - und es verschlägt einem den Atem - es werden die Trümmer Jerusalems zum Jubeln aufgerufen: Seid fröhlich und jubelt, ihr Trümmer Jerusalems! Sie sollen und können jubeln, weil es mit ihrem Trümmerdasein zu Ende geht - denn Jerusalem wird neugebaut werden, wird wieder die hochgebaute Stadt werden - und statt Leid, Geschrei und Schmerz wird Freude und Wonne einkehren!


Und dies, was der Gott Israels an Jerusalem und seinem erwählten Volk tun wird - das ist nicht etwas auf dieses Volk und auf diesen Erdenwinkel Beschränktes, sondern aller Welt Enden werden es sehen, es wird Heil bringen für die ganze Welt, bis in die entlegendsten Länder, bis hin nach Feuerland und Grönland, das Horn von Afrika und den Sudan, den Hindukusch und die Schluchten Afghanistans, Guantanamo und das Weisse Haus.


Ja, wie sollen wir das alles begreifen? Macht der Prophet sich und seinem gequälten Volk in seiner Verzweiflung etwas vor, flüchtet er in haltlose Illusionen, teilt er sich und den Seinen Opium aus?


Das ist absolut ausgeschlossen. Der Prophet sagt ja nicht etwas, auf das er selber gekommen wäre - sondern er sagt etwas weiter, das für ihn selber völlig unerwartet und überraschend gekommen ist. Der Schöpfer des All selbst hat ihm Augen und Ohren ganz geöffnet, hat in seinem Ratschluss diesen Menschen dazu ausersehen, Einblick in seine Pläne zu nehmen.


Demnach verkündet der Prophet etwas noch Ausstehendes, noch Zukünftiges?


Teils ja. Und spricht doch zugleich von etwas, was schon Wirklichkeit ist.

Denn er sagt ja: Gott hat sein Volk getröstet. Er hat Jerusalem schön erlöst. Die Freudenboten verkünden schon den Frieden. Aller Welt Enden sehen schon das Heil

unseres Gottes.


3

Der Prophet hat schon gesehen, wofür wir noch blind sind. Er sieht schon mit Augen, die Gott, die Christus sehend gemacht hat. Um es wieder mit einer Formulierung Luthers zu sagten : Ein Christ sieht da Wirklichkeit, wo keiner sie sieht, und da keine mehr, wo jeder sie sieht.

III


Die Adventszeit ist die Zeit, die uns die Augen dafür wenigstens ein wenig öffnen will.


Ich weiss nicht, ob Sie noch den "Weg" kennen - ich meine jetzt die Kirchenzeitung für das Rheinland "Der Weg". Schwester Marianne kennt sie natürlich oder Ehepaar Assmann... Und vielleicht kannte der eine oder die andere auch noch einen ihrer frühen Chefredakteure: Friedrich Schwanecke.


Von ihm gibt es ein Gedicht, das solch ein - neudeutsch gesagt - "eyeopener" ist. Es hat den Titel "Advent" und ist eins der besten Adventsgedichte, die ich kenne, weil es das, was die Bibel von Advent und Weihnachten, ja von dem Gott der Bibel überhaupt sagt, sehr dicht wiedergibt. Ich sage es auf:


Sie schauen nach oben

und warten auf den, der da kommt.

Doch von oben

kommt er nicht.

Vergebens schauen sie

indessen

hinter ihrem Rücken

der da kommen soll

kommt.


Die Hirten schauen geblendet und voll Furcht in die unbeschreibliche Klarheit der himmlischen Lichtwelt hinein, aber der Gottesbote, von dieser Lichtflut umhüllt, sagt ihnen: Nicht hier! Dort! Hinter eurem Rücken, da ist er. Der Friede. Da ist das Heil, das aller Welt Enden sehen werden, der, den Luther - um ihn noch ein drittes Mal zu zitieren, so nennt: Der "Krippenherr und Windelfürst".


Sie schauen nach oben und warten...Das tun wir doch alle. "Die da oben" sind verantwortlich, sollen's richten: Die Politiker - oder: Die Kirchenleitung - oder: Die Pfarrer.

Und wenn wir das Wort "Gott" hören, gehen unsere Gedanken doch auch unwillkürlich nach oben. Aber von oben kommt er nicht. Eher "von unten".


Wie das auch die Chassidim wussten, die osteuropäischen Juden, deren Kultur die Nazis bis auf einen inzwischen neu ausschlagenden Stumpf auszurotten versuchten. Martin Buber erzählt in seinem Buch "Die Erzählungen der Chassidim" auch diese Geschichte: Der Schüler kommt zum Rabbi und fragt: Meister, es wird gesagt, früher hätten Menschen Gott von Angesicht gesehen. Warum geschieht das heute nicht mehr? Darauf der Rabbi: Weil sich heute niemand mehr so tief bücken will.


Von oben kommt er nicht - noch nicht. Unten ist er. Hinter unserem Rücken, da, wo wir nicht hindenken und nicht gern hinsehen wollen. Da, wo wir's nicht erwartet hätten.


IV


Mir fällt eine Geschichte ein, die mir vor vielen Jahren eine Frau aus meiner früheren

4

Gemeinde erzählte.


Sie war seit Jahren nach einem Streit mit ihrem Bruder in Unfrieden mit ihm. Der Kontakt zu ihm war ganz abgebrochen. Und dann hatte sie wieder einmal das Grab ihrer Mutter besucht. Sie ging schon wieder zurück auf das Friedhofstor zu, da hörte sie hinter ihrem Rücken jemanden rufen. Sie drehte sich um: Ihr Bruder. Beide, erschüttert, versöhnten sich.


Da war etwas von Gottes Heil hinter ihrem Rücken begegnet. Gott hatte mitten im Alltag etwas Großes getan. Hatte gehandelt, wo sie's überhaupt nicht erwartet hätten.


Im Unscheinbaren ist er. Wo wir nur Armseligkeit sehen, könnten wir etwas vom Glanz seiner Herrlichkeit schauen.


Ein anderes Beispiel, das mir sehr wichtig ist. Ich fand es in einer Predigt meines theologischen Lehrers Gerhard von Rad über die Bileamgeschichte. Sie wissen: Jene wunderbare Geschichte, in der eine Eselin mehr sieht als der vermeintliche Seher Bileam.


Bileam sollte Israel verfluchen. Aber dann muss er es segnen, mit einem herrlichen Segensspruch. Er sieht von einer Anhöhe aus die ziemlich armseligen Zelte der Kinder Israel am Rande der Wüste und dann bricht er in die Segensworte aus:


Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel! Wie Täler, die sich ausbreiten, wie Gärten am Strom, wie Eichen, die der Herr gepflanzt, wie Zedern am Wasser. Wasser rinnt aus seinen Eimern, reichliches Wasser hat seine Saat!


So sieht er das Gottesvolk!


Von Rad dazu: Wenn wir so das Gottesvolk sehen würden - mit den Augen der Liebe und des Segens Gottes. So unsere scheinbar oft kläglichen Gemeinden, so unsere Gottesdienste!


Einen anderen Blick will uns die Adventszeit geben, Gott will uns sehend werden lassen für seine Wunder im Übersehenen.


Und eine große Hoffnung erfüllt uns dann: Doch! Aller Welt Enden sehen das Heil unseres

Gottes schon! Am Hindukusch - vielleicht während einer tief brüderlichen Begegnung zwischen einem deutschen Soldaten und einem Einheimischen. In Guantanamo, wo einer

der Wächter einem Gefangenen einen Becher Wasser reicht und ihm ein gutes, vielleicht mitfühlendes Wort sagt. Im Weissen Haus, wo sich eine schwarze Putzfrau über ein in ihren Augen üppiges Weihnachtsgeschenk freut. Im Verkauf von fair gehandeltem Kaffee in einer Düsseldorfer Gemeinde. Bei einem Glühwein auf einem unserer Weihnachtsmärkte, wo ein Ehepaar neu zueinander findet. In einem Brief, den Du schreiben wirst. Oder auch in vorweihnachtlicher Orgelmusik.


Wovon wir zu Weihnachten hören, davon sollen wir auch etwas sehen, in Zeichen, für die Gott uns die Augen öffnet.


Von oben kommt er nicht - noch nicht. Sondern hinter unserem Rüclken, im scheinbar Unscheinbaren.


Bis er dann, im Sterben, doch von oben kommt, und wir dann Alles erkennen, vom Glauben ins Schauen gelangen. Amen.