Frühgottesdienst am Vorletzten Sonntag nach Trinitatis, 14. November 2004

 

Lieder:

 

Es kennt der Herr die Seinen...358

Es ist gewißlich an der Zeit...149, 1-4/  5-7

Wir warten dein, o Gottes Sohn... 152, 3 und 4

 

Psalm 51 (Nr. 727 S. 1158)

 

Lesung: Römer 8, 18 - 25 

 

Liebe Gemeinde,

 

der heutige Sonntag – der vorletzte im Kirchenjahr – erinnert uns an das vorletzte der beiden Geschehnisse am Ende der Zeiten: An das Weltgericht, das vor dem Eingang ins Ewige Leben steht.  Er spricht von jenem unvorstellbaren und unbeschreiblichen

Geschehen, in dem dieses Weltall beendet und verwandelt wird und dann Christus,  der aufgefahren ist in den  Himmel und zur Rechten Gottes sitzt, von dort kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten“. Die ganze Welt und  auch jeder von uns verendet also nicht einfach nur, sondern geht auf den Tag einer endgültigen Entscheidung zu, der Ent-scheidung von gut und böse.

 

Davon  spricht der heutige Predigttext so: Ich lese aus Matthäus 25 die Verse 31 – 46.

 

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann  wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit,

und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und  er wird sie voneinander scheiden, wie ein  Hirt die Schafe von den Böcken scheidet,

und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zu seiner Linken.

Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!

Denn ich bin hungrig gewesen, und  ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.

Ich bin  nackt gewesen, und  ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.

Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und  haben dir zu essen gegeben?  Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?

Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet?

Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch:

Was ihr getan habt einer von diesen meinen geringsten Schwestern, einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

 

2

 

Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!

Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.

Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.

Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?

Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.

Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

 

„Über der ganzen Menschheit, über dem Gräberfeld dieser Erde, über den Schichten von Knochenasche, die sich seit Jahrtausenden übereinander lagern und  in die Generation um Generation einsinkt und  dem Vergessenwerden verfällt – hoch über diesem Totenreich erscheint einer, der selbst die Spuren eines schrecklichen Todes an sich trägt – und er ruft mit einer Stimme, wie sie die Welt noch niemals gehört hat – oder nur einmal, damals, als alles Seiende auf solch einen Ruf hin aus dem Nichts ins Dasein trat; er ruft mit unwiderstehlicher schöpferischer Kraft, und was längst vermodert und vergessen war, das steht wieder da, wird wieder lebendig...“.

 

So beschreibt Helmut Gollwitzer in einer Predigt (Zuspruch undAnspruch, S. 62) jenes in Wahrheit unfaßliche Geschehen, die Wiederkunft Jesu Christi zum Jüngsten Gericht. 

 

                                                                      I                                                                     

 

„Und alle Völker werden vor ihm versammelt werden...“ Also nicht nur jeder einzelne Mensch - jeder für sich persönlich, steht dann vor ihm, sondern wir auch inmitten unserer Völker. An diese Wahrheit denken wir vermutlich wenig . An unser eigenes Ende denken wir vermutlich hin und wieder, vielleicht auch daran, wie es sein wird, wenn wir mit unserem ganzen Leben – mit allen Gedanken, Worten und Taten unseres Lebens - vor ihm stehen werden. Aber: Die Völker werden vor Ihm versammelt werden...?? Das ganze deutsche Volk also auch, mitsamt seiner Geschichte? Die Europäer insgesamt? Die sog. „weißen Völker“ überhaupt mit ihrer ganzen  Schuldgeschichte? Unausdenklich wird sie auch in dieser Hinsicht, die Wahrheit vom Endgericht. Jedenfalls: Nicht nur unser persönliches Leben, sondern zugleich auch unsere Geschichte als deutsches Volk wird dann von dem Richter der Welt gewogen und  beurteilt.

 

                                                                       II

 

Und  damit sind wir bei der anderen Bedeutung des heutigen Sonntags: Dem Volkstrauertag, an dem wir  der Opfer und Täter der Kriege, vor allem derer des Zweiten Weltkriegs, gedenken. Bis heute ist das ja alles lebendig, kaum ein Trauer-

3

 

oder ein  Geburtstagsbesuch von mir bei einem älteren Menschen, bei dem sich im Gespräch nicht zeigte, daß diese Jahre durch Schuldigwerden, durch Verlust von Angehörigen und /oder der Heimat das Leben seither entscheidend geprägt haben.

 

Im Jahre 1944, mitten in der Realität des Entsetzlichen, hat der Dichter Werner Bergengruen ein Gedicht geschrieben: „Die letzte Epiphanie“. Da sagt Christus:

 

„Ich hatte dies Land in  mein Herz genommen.

Ich habe ihm Boten um Boten gesandt.

In vielen Gestalten bin ich gekommen.

Ihr aber habt mich in keiner erkannt.

 

Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer,

ein  Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuhn.

Ihr riefet dem Schergen, ihr winktet dem Späher

Und meintet noch, Gott einen Dienst zu tun.

 

Ich kam als zitternde geistgeschwächte

Greisin mit stummem Angstgeschrei.

Ihr aber spracht nur vom Zukunftsgeschlechte

Und nur meine Asche gabt irh frei.

 

Verwaister Knabe auf östlichen Flächen,

ich fiel euch zu Füßen und flehte um Brot.

Ihr aber scheutet ein zukünftiges Rächen,

ihr zucktet die Achseln und  gabt mir den Tod.

 

Ich kam als Gefang’ner, als Tagelöhner,

verschleppt und verkauft, von  der Peitsche zerfetzt.

Ihr aber wandtet den Blick von dem struppigen Fröhner.

Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?

 

Das war also Er! sagt der Dichter und verweist uns  auf unsern Predigttext, diesen Text, der nach der Passionsgeschichte und neben einigen Gleichnissen Jesu für mich zu den bewegendsten und  bedrängendsten Texten  des Neuen Testaments gehört – auch darum, weil er eine Antwort gibt auf die manchmal so theoretisch und  langweilig diskutierte sog. „Gottesfrage“, eine Antwort, so einfach und  anstößig, daß man zurückfährt. Wer ist Gott? Wo ist Gott? Gott war ein bleicher Jude, nachts vergeblich Schutz suchend, Gott war eine verängstigte geistesgestörte Greisin, deren Leben für lebensunwert erklärt wurde, Gott war ein russischer oder polnischer Zwangsarbeiter hier bei Krupp in Essen. Gott ist eine Frau in Ruanda, die vergewaltigt wird, eine Mutter im Sudan,  die ihr Kind nicht stillen kann  und mit ansehen muß, wie es stirbt. Das ist Gott.  „Gott ist in  Christus“, sagen wir theologisch, und Christus sagt hier: Ich bin in einem meiner geringsten Brüder und  Schwestern.

 

 

 

 

4

 

                                                                       III

 

Gewiß: Gott begegnet uns auch im Gebet. Und: Er begegnet uns im Wort der Bibel – aber eben auch in dieser dritten  Weise: In den  geringsten Geschwistern Jesu.

 

Damit die Jünger Jesu nach seinem Weggehen von der Erde auch wissen, wo und wie sie ihm wiederbegegnen werden, darum sagt er es ihnen hier rechtzeitig.  Denn dieses Gleichnis ist sozusagen das letzte Wort Jesu, die krönende Zusammenfassung  all dessen, was er vorher gesagt und getan hat. Einen Vers nach unserm Text setzt die Bach’sche Matthäuspassion ein. Nachdem er dies Gleichnis

hier gesagt hat, geht er und sagt fast nichts mehr, es kommt  nur noch die Tat, die Leiden heißt: Gethsemane, Gefangennahme, Geißelung, Nacktheit, Durst, Ausgestoßenwerden, Foltertod.

 

Der, der einmal als Richter aller Welt erscheinen wird, der ist also der, der in seiner Passion selber durstig, nackt, krank, gefangen, ein Fremdling, ein Ausgestoßener  wird. Er ist der, unter dessen Kreuz wir alle erkennen müssen, daß wir ja auch so dran sind, daß wir in Wahrheit selber wie die geringsten Geschwister Jesu sind – und daß wir also ganz und  gar angewiesen sind auf die Gnade, die er uns  durch seinen Tod am Kreuz erworben hat.

 

Wir stehen nackt und bloß vor Gott da, vor dem, der uns durchschaut bis ins Innerste unserer Herzen und  alles von uns weiß – und Er umkleidet uns mit dem Ehrenkleid seiner Gerechtigkeit, mit dem Festgewand seiner Vergebung. Wir sind gefangen in Schuld und  Selbstgerechtigkeit und kommen aus dem Gefängnis der Schuld nicht heraus, weil dieses Gefängnis keine Klinke von innen hat – und er öffnet es durch seine Liebe zu uns und führt uns ins Weite. Wir sind unterwegs in  der Fremde, die das Leben hier bleibt – und  er schenkt uns Heimat und Geborgenheit. Wir dürsten und hungern nach Leben und  er labt uns mit Brot und Wein. Wir sind krank, sind gekränkt – und er wird uns zum Heiland, zum Arzt...

 

                                                                       IV

 

Und darum ist dieses Gleichnis ja nicht einfach nur ein Aufruf zur Nächstenliebe, sondern vor allem auch Evangelium, Mitteilung der Gnade Gottes, auf die wir angewiesen sind und die er uns durch Jesus schenkt! Diese Gnade Gottes schenkt uns höchste Freiheit, denn jetzt darf ich hören: Du kannst dir auch durch das beste Leben das Wohlwollen Gottes nicht erwerben – und du brauchst dich auch gar nicht mehr darum zu bemühen, denn Gott schenkt dir sein Wohlgefallen um Jesu willen – und dem Andern, den Du vielleicht für böse und schlecht hältst, ebenso unverdient.

 

Und darum können wir jetzt sein wie diese Menschengruppe hier, die ganz erstaunt fragt: Herr, wann hätten wir dich krank oder hungrig gesehen und  hätten dir gedient? Sie wissen das überhaupt nicht, es ging ihnen ja garnicht darum, Gutes zu tun, um sich – eingestanden oder nicht -  dadurch doch ein wenig Ansehen vor Gott und auch bei Menschen zu verschaffen. Sondern weil sie sich so unbändig darüber freuen, daß sie so geliebt und  angesehen  bei Gott sind, haben sie jetzt die Hände frei, das zu tun, was ihnen vor die Hände und  Füße kommt. Sie sind  frei von Ichbezogenheit, können im besten Sinne selbst-los sein.

 

5

 

So wie es Dostojewskij in jener Fabel sagen will, die er in dem Roman „Gebrüder Karamassow“ erzählt. Es ist der Tag des Jüngsten Gerichts, die Bücher des Lebens werden aufgetan und die Engel erstatten Bericht über das Leben jedes Menschen. Und dann  ist da eine alte Vettel, ein böses Weib, von  der weiß keiner der Engel etwas Gutes zu berichten. Und der Weltenrichter fällt das Urteil: Werft sie in den ewigen Feuersee.

 

Da kommt ein kleiner Engel angeflogen und sagt: Einmal, einmal hat sie einem Bettler eine Zwiebel geschenkt. Gut, sagt Christus zu dem Engel, nimm die Zwiebel und  versuche sie daran herauszuziehen. Der Engel fliegt hinab, die Frau greift gierig nach der Zwiebel, die Zwiebel hält und zieht sie heraus. Da klammern sich noch andere ewig Verlorene an ihre Beine, und die Zwiebel hält und zieht sie

alle heraus. In dem Augenblick strampelt die Frau wütend mit den  Beinen  und ruft: Weg  mit euch, das ist meine Zwiebel! Da reißt sie und  alle stürzen hinab.

 

„Das ist meine Zwiebel!“ So  brauchen wir nicht mehr zu reden, Christus hat uns  befreit vom Zwang zur Selbstdarstelung.

 

Herr, wann haben wir dich so gesehen...? Sie sind völlig erstaunt. Denn sie haben doch selbstlos das Selbstverständliche getan.

 

Solche Menschen zu werden, die – befreit von der wunderbaren Gnade Gottes –  einmal in solch ein  Erstaunen geraten – dazu beruft und befähigt uns dieses Gleichnis.

 

Dazu bewahre der Friede Gottes,  der höher ist als alle Vernunft, unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserm Herrn. Amen