Predigt über Titus 2, Vers 11: Erschienen ist die heilsame Gnade Gottes allen Menschen (Heiligabend 2003, 17.30h)

 

Liebe Schwestern und Brüder,

 

Die Gnade Gottes ist erschienen!

 

So wie nach einer dunklen kalten Nacht die ersten Strahlen der Sonne zu leuchten beginnen und man sich freut auf die kommende Wärme und den klaren Himmel: So ist zu Weihnachten  die Gnade Gottes auf unserer Erde  erschienen: Wie helle Strahlen, wie wärmendes Licht.

 

Oder: Wie bei zwei Menschen, die sich erbittert und mit verbissenen Mienen gegenüberstanden, mit einemmal auf dem Gesicht des einen ein ganz gelöstes heiteres Lächeln erscheint und er seinem Gegenüber freundlich die Hand entgegenstreckt – so dass der vielleicht  auch ganz entspannt zu lächeln beginnt und sie sich vielleicht sogar in die Arme fallen...

 

so ist zu Weihnachten die Gnade Gottes erschienen: Als erlösendes, entgegenkommendes  Lächeln Gottes.

 

In diesem einen Wort „Gnade“ ist die ganze Weihnachtsbotschaft enthalten. Und wir werden ja gleich auch von der „gnadenbringenden Weihnachtszeit“ singen.

 

Ich habe im griechischen Wörterbuch zum Neuen Testament  nachgesehen, was eigentlich das Wort Gnade – charis - im griechischen Urtext wortwörtlich bedeutet, und da steht: Es bedeutet „Anmut, Lieblichkeit, Gunst, Wohlwollen“. Übersetzen wir also einmal so: Erschienen ist die Anmut Gottes unter uns Menschen – im Lächeln eines Kindes.

 

Anmut: Das ist ja ein selten gebrauchtes Wort – und es ist ein Wort für etwas Seltenes, kaum  Beschreibbares, Zartes. Das Lächeln eines kleinen Kindes kann überaus anmutig, rührend, zu Herzen gehend  sein. Nicht wahr, solch ein kleines Kind ist imstande und lächelt den schlimmsten Taugenichts genauso an wie die eigene Mutter. Da zählt keine Bosheit und wäre sie noch so schlimm, da zählt auch kein Verdienst und wäre es noch so bewunderungswürdig.

 

Solch ein Lächeln ist ein  Bild für die Gnade Gottes, die mit der Geburt Jesu unter uns Menschen erschienen ist. Und  darum habe ich den Liedvers mit Bedacht ausgewählt und darum konnten wir es auch innig und andächtig singen: Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus deinem göttlichen  Mund, da uns schlägt die rettende Stund, Christ, in  deiner Geburt.

 

Freilich, wir werden nicht rührselig. Wir vergessen nicht: Das Lächeln dieses Kindes wäre bedeutungslos, wenn nicht der Mann Jesus bei dieser Haltung geblieben wäre, sich dem schlimmmsten Taugenichts wie dem verehrungswürdigsten Frommen mit der gleichen Bejahung, der gleichen Freundlichkeit und Liebe zugewandt und damit alle unsere Massstäbe der Beurteilung von Menschen infragegestellt hätte.

 

 

2

 

Und vor allem: Jesus wäre längst vergessen, wenn nicht Gott ihn aus dem Tode auferweckt, zum Herrn und  Retter für alle eingesetzt hätte und seither seine Gnade, sein Wohlwollen, seine Gunst jedem Menschen  anbietet, wer er auch sei – jedem Menschen auf der Erde, bedingungslos. Und das bedeutet dann übrigens auch: Keinem Menschen, auch dem schlimmsten  Diktator und Verbrecher, darf man jetzt noch die Menschenwürde absprechen (und also auch keine entwürdigenden Fotos von ihm veröffentlichen).

 

Wie wohltuend ist die Gnade Gottes für unser Leben! Wir alle, die jetzt in diesem Gottesdienst sind, leben ja im Grunde in einer gnadenlosen  Welt. Erbarmungslos geht’s allzuoft zu im Wirtschaftsleben, oder im Beruf – etwa, wenn ältergewordene Mitarbeiter entlassen werden. Gnadenlos sind die Götzen Geld, Fitness, Jugendwahn, erbarmungslos geht es allzuoft zu im sog. Hochleistungssport oder im Strassenverkehr, und wie gnadenlos sind manche Krankheiten. Gnadenlos geht’s zu im Krieg oder in Gefangenenlagern.

 

Aber nun  ist in dieser erbarmungslosen Welt die Gnade erschienen: Heilsam, rettend, wie unser Vers sagt. 

 

Aber, fragen wir: Das Lächeln dieses Kindes, die Lebenshingabe dieses Gekreuzigten, das Wohlgefallen, das Gott durch ihn  jedem Menschen zuwendet – das soll uns und alle Welt retten? Ist nicht die Gnadenlosigkeit, die Aggressivität, das Impiergehabe mit hochtechnisierten Waffensystemen viel stärker? Setzt sich nicht überhaupt immer der durch, der skrupellos seine eigenen Interessen verfolgt?

 

Ich kann darauf nur mit dem Liedvers antworten, den wir eben gesungen haben: Du Hirtenvolk, erschrecke nicht, weil dir die Engel sagen, dass dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein, dazu den Satan zwingen und letztlich Frieden bringen. Und ich kann dazu – obwohl auch ich oft von Fragen und  Zweifeln im Blick auf Gott und uns Christen bedrängt bin – ich kann dazu trotz allem nur aus vollster Überzeugung sagen: Ja, das glaube ich. Dieses schwache Knäbelein ist stärker, weil in ihm nicht die Liebe eines Menschen, sondern die Liebe Gottes erscheint. Und  weil es uns das ganze Neue Testament mit absoluter Gewissheit zusagt: Er – ein Lamm – er wird das letzte Wort über alle und alles sprechen, er wird der Richter sein und das letzte Urteil sprechen über jeden Menschen, auch über den, der sich jetzt noch im Hochgefühl eigener Macht sonnt und dem scheinbar so ohnmächtigen, schwachen, wirkungslosen Jesus nichts zutraut.

 

Und wir wissen es im  Grunde auch alle. Wie kindisch wirkt der Stolz auf hochkomplizierte Todesmaschinen, wenn man sie vergleicht mit dem, wovon wir leben: dem Wunder der Lebendigkeit eines Säuglings, dem Geschenk der Vergebung, oder der Herzlichkeit, die ein  Mensch ausstrahlt.

 

Wieviel schöner ist es, sich für das Leben und das Recht benachteiligter Menschen einzusetzen als selber immer mehr für sich anzuhäufen.

 

Wie anders sähe es in unserer Welt aus, wenn nur ein Teil der Hunderte von Milliarden Dollar für die Kriegsmaschinerie in Projekte investiert würde, die dem

 

3

 

Leben dienen und Gerechtigkeit fördern. Ich stelle mir vor, wie die islamische Welt in Erstaunen geraten würde, wenn der gläubige Christ Bush verkünden würde: Wir setzen ein Fünftel unseres jährlichen Rüstungsetats, nämlich 100 Milliarden Dollar, im Kampf gegen den Hunger ein.

 

Oder in unserem alltäglichen Leben: Welch eine Wohltat ist ein  Mensch, der sich im Büro, in der Schule, im  Sport, im Strassenverkehr grosszügig und herzlich verhält.

 

Wie unendlich wichtig ist es, wenn ein Vater seinem Sohn, der sich verirrt hat, in Fürbitte und Liebe zugewandt bleibt und das Vertrauen nicht aufgibt, dass Gott doch noch alles zum Guten wenden kann.

 

Wie schön ist es, wenn Eheleute sich aussprechen, einander vergeben, neu zueinander finden, weil sie der Führung und Treue Gottes vertrauen. Und vor allem – und das ist ja der Ernstfall des Lebens: Im  Sterben sind wir alle auf die Gnade Gottes angewiesen – und dürfen dieser Gnade aber auch im Glauben gewiss sein!

 

Wer sich in  der Gnade Gottes geborgen und  von ihr gerettet weiss, der kann  auch sich selbst bejahen. Der wird trotz allem und in allem Schwierigen, das es in dieser zugleich wunderschönen wie schrecklichen Welt, in diesem zugleich herrlichen wie schwierigen Leben gibt, ein im  Grunde seines Wesens froher, dankbarer, innerlich gesunder Mensch; einer, der tapfer und getrost in dem Wissen lebt: Er, Jesus hat das letzte Wort – er und  nicht irgendein  Augustus. Darum: Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen. 




Weitere Predigten von Pfarrer Martin Quaas, Essen-Rellinghausen, finden Sie unter www.martin-quaas.de/predigten.